„Zäit vun de Jugementer“

Interview mit dem Historiker Claude Wey

Sie haben sich der Kollaboration schuldig gemacht.
Nämlich als „collaborateur scientifique“ bei der Ausstellung
„Mord und Totschlag“. Wie sind Sie dazu
gekommen?
Claude Wey: Zwischen 2008 und 2009 konnte ich
bei der Ausstellung „Mord und Totschlag“ im Musée
d’histoire de la Ville de Luxembourg mitwirken, die
sich mit Kapitalverbrechen und deren historischen
und aktuellen Dimensionen auseinandersetzte. Im
dazugehörigen Begleitband1 wurde ein Aufsatz von
mir veröffentlicht, der sich dem sogenannten „Fall
Bernardy“ widmete. Dabei handelte es sich um einen
fünffachen Mord, der sich im Juli 1945 auf dem
Windhof, einem Bauernhof in der Nähe von Welscheid,
zugetragen hatte. Bei der damaligen Ausstellung
hätte leicht der Eindruck entstehen können,
dass die wirklich schlimmen Kapitalverbrechen zwar
in der Großregion, aber keinesfalls in Luxemburg
begangen wurden. Da dies nicht der historischen
Realität entsprach, wählten wir mehrere luxemburgische
Fallbeispiele.
Weshalb ist das Fallbeispiel „Bernardy“ interessant?
C.W.: Es handelt sich dabei nicht um ein für die
luxemburgische Nachkriegszeit wirklich repräsentatives
Ereignis und doch skizziert genau dieser „fait
divers“ ein Stimmungsbild jener Zeit. Erstens konstruiert
sich der später des Mordes beschuldigte,
kriminell vorbelastete Nicolas Bernardy nach seiner
Rückkehr aus dem deutschen Zuchthaus eine
Identität, die der politischen Situation in der Nachkriegszeit
angepasst ist. So stellt er bei einem kurzen
Aufenthalt im Jahre 1945 in Luxemburg seinen
Gefängnisaufenthalt in Deutschland als politische
„Zäit vun de Jugementer“
Interview mit dem Historiker Claude Wey
Haft dar. Er instrumentalisiert seine neue Identität,
um Straftaten, wie jene auf dem Windhof, zu verschleiern.
Er lässt etwa den Mord an der deutschen
Pächterfamilie Weyer, dem Knecht und der Magd
unter anderem durch das Tragen einer amerikanischen
Uniform wie einen anti-nazistischen Vergeltungsschlag
aussehen und dies nicht mal drei Monate
nach der Kapitulation Deutschlands.
Des Weiteren wird Bernardy, obwohl er einen Sergeanten
belastet, nicht nur als einziger Täter verurteilt,
sondern seine Exekution stellt auch die erste
Hinrichtung eines Gemeinverbrechers überhaupt
seit 1821 dar und wird die Letzte in Luxemburg
bleiben. Interessant ist in diesem Zusammenhang,
dass der Journalist und Chronist der Luxemburger
Justiz, Tony Jungblut, noch 1938 von einer praktischen
Abschaffung der Todesstrafe sprach, da man
zwar noch zum Tode verurteilt, jedoch in der Regel
begnadigt wurde. In anderen Worten, die Todesurteile
wurden in lebenslängliche Zwangsarbeitsstrafen
umgewandelt. Jungblut sollte bedauerlicherweise
mit seiner Schlussfolgerung nicht Recht behalten.
Inwiefern ermöglicht gerade ein solch extremer Fall, in
einem weiteren historischen Kontext ein Bild der Zeit
zu zeichnen?
C.W.: Nicht unerheblich ist der Umstand, dass die
Einwohner der Welscheider Gegend, in welcher die
Morde begangen wurden, noch sehr unter den Folgen
der Rundstedt-Offensive litten. Es handelte sich
also um einen Ort voller menschlicher Tragödien
und materieller Zerstörung. In jenem Zeitraum, in
dem Bernardy exekutiert wurde, hatten wir es mit
einer Zeit sehr großer sozialpolitischer Spannungen
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zu tun. Diese wurden durch die Traumata der
Kriegsjahre sowie durch direkte politische Problematiken
aus der Nachkriegszeit ausgelöst.
Die deutsche Familie Weyer hatte zu Kriegszeiten
den Hof von der Kreisbauernschaft, welche dem
Gauleiter unterstellt war, erhalten. Da der Windhof
während der Rundstedt-Offensive von jeglicher Zerstörung
verschont blieb, konnten die Weyers im ersten
Friedenssommer sofort mit der Bewirtschaftung
der Felder und der Milchviehhaltung weiterfahren.
Dies führte nicht selten zu Missmut und Neid bei
den Nachbarn. Im Rahmen der polizeilichen Untersuchung
kam jedoch keine eindeutig ablehnende
Haltung der Welscheider Dorfgemeinschaft gegenüber
der Familie zum Vorschein. Ein Resistenzler sowie
der Pfarrer gaben sogar an, Pächter Weyer habe
in Niederfeulen den „versteckten Jungen“ geholfen.
Sein Sohn Mathias war ebenfalls überzeugter Antifaschist
und stand im belgischen Spionagedienst. Der
Fall ermöglicht also, ein „nuancierteres“ Bild der Luxemburger
Lokalgesellschaft dieser Zeit zu zeichnen.
Wie kam es dazu, dass gerade dieser Fall als Vorlage des
Drehbuchs von „Eng Nei Zäit“ diente?
C.W.: Ich erfuhr erst während des Entstehungsprozesses
des Drehbuchs, dass die Drehbuchautorin
Viviane Thill sich ebenfalls mit diesem mikrohistorischen
Ereignis beschäftigt hatte. In der Folge bekam
ich die Möglichkeit, ein paar Drehbuchversionen zu
lesen und meine kritischen Anmerkungen Viviane
Thill mitzuteilen. Von entscheidender Bedeutung
ist sicherlich, dass Viviane Thill selbst auf die Untersuchungsakten
zum Fall Bernardy zurückgriff
und somit ihre eigene Interpretation dieses Kriminalfalles
entwickelte und in der Folge mit fiktionalen
Elementen für den Film verarbeitete. Dies geschah
in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur
Christoph Wagner.
Wenn auch Viviane Thill durch die Lektüre meiner
Studie „Der Fall Bernardy“ zu ihrem Drehbuch-
Thema fand, so möchte ich aber unbedingt erwähnen,
dass die Luxemburger Presse schon lange vor
der Publikation meines Artikels sporadisch auf den
Fünffachmord von Windhof-Welscheid zurückgegriffen
hatte. So verfasste im Jahre 1973 der Journalist
Evy Friedrich einen sorgfältig recherchierten
Beitrag über die „Bernardy-Affäre“ unter dem Titel
„Die letzte Hinrichtung in Luxemburg“.
Der Interpretationsprozess hatte jedoch schon viel
früher eingesetzt: Bereits kurz nach der Tat hatten
die Dorfbewohner ihre eigene persönliche „Meinung“
zu den Geschehnissen entwickelt, welche
sich in den diversen Zeugenaussagen widerspiegelte.
Hinzu kommen jene Interpretationen, die man in
den Polizeiberichten vorfinden kann. Und auch
jene des Assisenhofes, der schon nach zwei Tagen
zu einem Urteil kam. Vergleicht man dies mit dem
„Bommeleeër-Prozess“…
Im Film werden die Begriffe Helden und Heldentum
häufig verwendet. Wie stehen Sie als Historiker hierzu?
C.W.: Anfänglich war ich ein wenig verwundert über
den Wortgebrauch, ich verstand ihn in der Folge jedoch
vor allem als dramaturgisches Mittel, um die
Hauptfigur des Filmes Jules Ternes, einen Maquisard,
welcher seine Kameraden unter Folter verrät, im
weiteren Verlauf besser als „Anti-Helden“ darstellen
zu können. So findet eine Dekonstruktion des herkömmlichen
Heldenbildes statt. Eine weitere These
meinerseits ist, dass der Begriff instrumentalisiert
Der Fall Bernardy
Nicolas Bernardy wird in eine marginalisierte
Familie hineingeboren und gerät schon früh
wegen kleinerer, später aber auch aufgrund
schwerer Delikte mit dem Gesetz in Konflikt.
1933 wird er zu 12 Jahren Zwangsarbeit verurteilt
und sitzt somit zu Beginn der deutschen
Besatzung im Gefängnis. Ab 1940 wird er dann
Insasse mehrerer deutscher Zuchthäuser, darunter
auch jenem in Butzbach. Nach der Besetzung
der Stadt durch amerikanische Truppen läuft er
weg und legt sich eine neue persönliche Vergangenheit
zu. Danach verbringt er Zeit in der Eifel
und behauptet in späteren Verhören, er habe
damals als Spitzel für die Besatzungsmächte
gearbeitet. Nebenher sei er jedoch auch als landwirtschaftlicher
Gehilfe tätig gewesen und habe
sich kleinerer Delikte schuldig gemacht. Der von
Bernardy geplante Überfall bei Familie Weyer
auf dem Windhof eskaliert zum Fünffachmord.
Nach anfänglichen Ermittlungsschwierigkeiten
gelingt es den Kriminalbeamten durch einen am
Tatort gesicherten Fingerabdruck den mehrmals
vorbestraften Bernardy wegen Raubmordes zu
überführen. Nicht unerheblich hierbei ist die Tatsache,
dass Bernardy in den späteren Verhören
einen luxemburgischen Sergeanten belastet, der
nachgewiesenermaßen zur Tatzeit in der Nähe
des Hofes gesehen wurde. Er wird jedoch als
alleiniger Täter am 4. Mai 1948 vom Assisenhof
schuldig gesprochen und wenig später – am 7.
August 1948 – exekutiert.
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Geschichte November 2015 57
wird, um das Bild des heldenhaften Maquisards
zu nuancieren, aber gleichzeitig auch das vorherrschende
Bild der Kollaborateure zu hinterfragen.
Wissenschaftliche Studien aus den vergangenen
Jahren weisen auf die Notwendigkeit einer Nuancierung
hin, da es ja auch nicht die Kollaboration,
sondern mehrere Formen davon gab.
Würden sie die Nachkriegszeit als eine „neue Zeit“
bezeichnen? Könnten Sie kurz auf die Luxemburger
Nachkriegszeit eingehen? War es eine „neue Zeit“?
C.W.: Nicht wenige glauben, ab 1945 sei sofort alles
Unangenehme unter den Teppich gekehrt worden,
obwohl das nicht zutrifft. Die damalige Gesellschaft
war von einer stark verbreiteten sozialpolitischen
Vehemenz geprägt. Diskutiert und gestritten wurde
nicht selten auf eine brutale Art und Weise. Es
herrschte eine hohe Gewaltbereitschaft, die sich in
mannigfaltigen Formen auf politischer und gesellschaftlicher
Ebene artikulierte. Sie war durch die
gerade durchlebten Traumata verursacht worden.
In meiner Studie habe ich dazu Folgendes festgehalten:
„Die von der Nazi-Herrschaft veranlassten
Maßnahmen wie Folterungen, KZ-Inhaftierungen,
Zwangsrekrutierung der Luxemburger Jungmänner
in die Wehrmacht sowie die verheerenden menschlichen
und materiellen Verluste während der Rundstedt-
Offensive erzeugten ein allgemeines Klima der
Gewalt.“
All dies hatte natürlich Einfluss auf die politische
Situation in der Nachkriegszeit. 9 500 Gerichtsakten
wurden im Rahmen der politischen Prozesse gegen
Kollaborateure angelegt. Anfang Juli 1945 waren
5 101 Personen wegen Kollaboration inhaftiert. Es
ist klar, dass man in einer solchen Situation nicht
direkt zu etwas Neuem übergehen kann. Es war
eine Zeit der „règlements de compte“, eine Zeit der
Verurteilungen auf gesellschaftlicher wie staatlicher
Ebene.
Man darf auch nicht vergessen, dass Luxemburger,
welche zuvor schon den Ersten Weltkrieg bewusst miterlebt
hatten, sich nach dem zweiten Krieg am Ende
jener Phase befanden, die man als den 30-jährigen
Krieg des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Sie hatten bis
dato ein hohes Ausmaß an Instabilität und Krisen
erlebt und hofften verständlicherweise, dass es nicht
so weitergehen würde. Dementsprechend vermitteln
bestimmte Akteure im Film zumindest die Hoffnung
auf eine neue oder eher auf eine bessere Zeit.
Was sagen Sie zum Produktionszeitpunkt dieses Films?
Ist Luxemburg erst jetzt bereit für eine Aufarbeitung
der Ereignisse?
C.W.: Ich bin der Meinung, dass es zu einer Überbewertung
der Tatsache kommt, dass das im Film behandelte
Thema derzeit viel stärker – oder sogar erst
jetzt – diskutiert wird als während der Zeitspanne
1980-2010. Wir haben es nun mal im Moment mit
einer Situation zu tun, in der viele Ereignisse in der
historiografischen Kultur zusammenlaufen. Wie
z. B. der mit dem Artuso-Bericht verbundene Historikerstreit
und der Film „Eng Nei Zäit“. Die Thematisierung
der Kollaboration von Luxemburgern
mit den nationalsozialistischen Besatzungsbehörden
ist nämlich nicht wirklich neu. Hier sei nur auf die
Publikationen von Paul Cerf2 und Paul Dostert3 aus
den Jahren 1980 und 1985 oder auf die Werke von
Lucien Blau4, Benoît Majerus5 und Henri Wehenkel6
verwiesen. Zudem veranstaltete das Luxemburger
Nationalarchiv im Jahre 2006 ein internationales
Kolloquium zum Thema7. Und im Jahre 2013 veröffentlichte
Vincent Artuso seine Dissertation über
La collaboration luxembourgeoise durant la Seconde
Guerre mondiale8. Letztere Arbeit wurde folgendermaßen
von Henri Wehenkel kommentiert: « [P]our
rien au monde je ne renoncerais au plaisir de lire ou
de relire Vincent Artuso. Il ne donne peut-être pas
toujours les bonnes réponses, mais il pose enfin les
vraies questions»9. Wehenkels abschließende Bemer-
EIn Dossier mit dem sich scheinbar nach dem Tod Bernardys mehr
beschäftigt wurde als davor (© ANLux, Cours et Tribunaux Affaire
Bernardy Nicolas, 26.8.1945).
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1 Wey, Claude, 2009, „Der Fall Bernardy“, in: Jungblut M.-P.,
Ceccarelli F., Welsch J. und Wey C., (Hg.). Mord und Totschlag:
Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des historischen Museums
der Stadt Luxemburg – Luxemburg, 10. Juli 2009 – 28. März
2010, Publications scientifiques du Musée d’histoire de la Ville de
Luxembourg, t. XIV: S. 182-211.
2 Cerf, Paul, 1980, De l’épuration au Grand-Duché de Luxembourg
après la seconde guerre mondiale, Imprimerie Saint-Paul,
Luxembourg.
3 Dostert, Paul, 1985, Luxemburg zwischen Selbstbehauptung und
nationaler Selbstaufgabe. Die deutsche Besatzungspolitik und die
Volksdeutsche Bewegung, Imprimerie Saint-Paul, Luxembourg.
Das Interview führten Kim Nommesch und Anne Schaaf am
19.10.2015.
kung sollte nicht nur für Artuso, sondern für alle
jungen Forscher Ansporn genug sein, sich mit dem
2. Weltkrieg und der Nachkriegszeit, aber auch mit
den schon vorliegenden Arbeiten von Luxemburger
Historikern kritisch auseinanderzusetzen.
Vielen Dank für das Gespräch. u
Rekonstruktion der Tat vor Ort (© ANLux, Cours et Tribunaux Affaire Bernardy Nicolas, sans date).
4 Blau, Lucien, 1998, Histoire de l’extrême-droite au Grand-Duché
de Luxembourg, Éditions Le Phare, Luxembourg.
5 Majerus, Benoît, 2000, „Les Ortsgruppenleiter au Luxembourg.
Essai d’une analyse socio-économique“, in: Hémecht 52 (2000) 1:
101-122; Majerus, Benoît, 2002, „Kollaboration in Luxemburg: die
falsche Frage?“, in: …. et wor alles net esou einfach. Fragen an die
Geschichte Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg. Ein Lesebuch zur Ausstellung.
Publications scientifiques du Musée d’histoire de la Ville de
Luxembourg, t. X: S. 126-140.
6 Wehenkel, Henri, 2008, „La collaboration impossible“, in: Collaboration:
Nazification? Le cas du Luxembourg à la lumière des situations
française, belge et néerlandaise, Actes du Colloque international,
Centre culturel de rencontre Abbaye de Neumünster, Mai 2006,
Organisateurs: Archives nationales Luxembourg/CEGES Bruxelles,
Luxembourg, Archives nationales: S. 250-271.
7 Ebd.
8 Artuso, Vincent, 2013, La collaboration luxembourgeoise au Luxembourg
durant la Seconde Guerre mondiale (1940-1945), Accomodation,
Adaptation, Assimilation, (Études luxembourgeoises 4),
Peter Lang Edition, Frankfurt am Main et al.
9 Wehenkel, Henri, 2013, „L’aventure historique de Vincent
Artuso“, in: forum, September 2013: S. 57-62.

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