Vorsicht mit dem Vorwurf des Antisemitismus
Eine Replik auf Henning Marmullas Edito in forum 419
Die Juli-Ausgabe von forum (Nr. 419) wurde mit einem Editorial von Henning Marmulla eingeleitet1, von dem ich mich mit dieser Replik distanzieren möchte, damit nicht der Eindruck entsteht, sein Leitartikel gebe einen Konsens in der Redaktion wieder. In besagtem Text wird von schrecklichen antisemitischen Vorfällen und Tendenzen in Deutschland auf Hubert Hausemers Kritik im Luxemburger Wort vom 5. Juni 2021 an der IHRA-Definition des Antisemitismus übergeleitet. Die vom luxemburgischen Philosophen Hausemer unterstützte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die eine auch in meinen Augen präzisere Definition liefert, wird als Einladung interpretiert, „die Grenzen des Sagbaren zu verschieben“, d. h. dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Daraus könnte man schließen, dass Hausemer und allen Befürwortern der neuen Definition eine antisemitische Haltung unterstellt wird, auch wenn das sicher nicht Absicht war.
Hubert Hausemer hat, seit ich ihn kenne, immer auf Begriffspräzision gehalten. Wie die Autoren der Jerusalemer Erklärung möchte auch er ein noch „hilfreich[er]es Werkzeug [bieten], um das Gift zu erkennen, das sich zunehmend in unseren Gesellschaften ausbreitet“ (Zitat Marmulla zur IHRA-Definition)! Im Übrigen hat auch die ECRI (European Commission against Racism and Intolerance) den Mangel an Präzision der IHRA-Definition kritisiert und sich erst nach langen internen Debatten für die IHRA-Definition und gegen die Jerusalemer entschieden.
Diese Definitionen sind keine Detailfragen, sondern hochpolitisch. Die IHRA-Definition und insbesondere die Beispiele, die dazu geliefert werden, sind so angelegt, dass eine Kritik an Israel und seiner Besatzungspolitik in den besetzten palästinensischen Gebieten leicht als antisemitisch verurteilt werden kann. Weltweit und in Israel geraten Organisationen und Personen, die Kritik an Israel äußern, auf der Grundlage der IHRA-Definition unter den Verdacht des Antisemitismus. Die Jerusalemer-Erklärung, die als Reaktion darauf formuliert wurde, ist in den Augen vieler Menschen in Israel und in der Welt schärfer und genauer und verhindert genau diese Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfes.
Ich verstehe genauso wenig wie Hausemer, wieso laut IHRA-Definition Antisemitismus sich auch gegen Nicht-Juden richten kann. Das in Henning Marmullas Beitrag bemühte Beispiel der Figur des Andri in Max Frischs Stück Andorra zeigt ganz im Gegenteil, dass Andri als Judenjunge konstruiert wird, der Hass auf ihn sich auf sein (vermeintliches) Judentum bezieht! Andri wird nicht als Andorraner, sondern als Jude zum Märtyrer. Er identifiziert sich zum Schluss mit den Juden, obschon er keiner ist. Ich kann mich erinnern, als wir vor 50 Jahren Andorra in der Schule durchgenommen haben, hat unser Lehrer weniger von Antisemitismus gesprochen – das war (man wird das heute mit Erstaunen bemerken) in Luxemburg damals kein Thema –, sondern vor allem auf das Vorurteil abgestellt, das Max Frisch inszeniert und auf die biblische, von Frisch ebenfalls bemühte Maxime: „Du sollst Dir kein Bildnis machen!“. Genau das wird auch von der Jerusalemer Erklärung abgedeckt, in der ausdrücklich Vorurteile als Form des Antisemitismus genannt werden. Die Henning Marmulla so wichtige Wahrnehmung ist eigentlich nur Voraussetzung jedes positiven oder negativen Bildes, das ich mir vom Anderen mache und insofern überflüssig in der Definition. Mir scheint daher, dass die Definition der Jerusalemer Erklärung die IHRA-Definition um kein Jota verkürzt, sondern präziser ist.
Henning Marmulla behauptet, die IHRA-Definition würde Kritik am Staat Israel nicht als Antisemitismus ansehen. Im Anhang zur IHRA-Definition wird präzisiert: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“ Da der rechtsgerichtete Trump-Freund Netanjahu 2018 Israel per Gesetz als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definieren ließ, öffnet die – vorher beschlossene – IHRA-Definition spätestens ab diesem Zeitpunkt Tür und Tor, um jede Kritik an Israel als antisemitisch zurückweisen zu können. Ob man nun Judentum als Religionsgemeinschaft oder als Volk definiert, die Diskriminierung von Minderheiten ist mit einer solchen Definition des Staates angelegt2, obwohl es sich bei Israel um einen in der Grundform demokratischen Staat handelt. Aus der Kritik an der besonderen Staatlichkeit Israels dann aber den Schluss zu ziehen, dass dahinter der „Wunsch nach Auslöschung … (des) jüdischen Teils seiner Bevölkerung“ steht, ist logisch nicht gerechtfertigt und ergibt sich nicht einmal aus der Definition Israels als jüdischer Staat.
Henning Marmulla verurteilt zurecht den Terror der Hamas. Doch Israel ist, wie viele Nationalstaaten (Belgien, Deutschland, Italien, …), mit Gewalttaten geboren worden und ist keine freundliche Besatzungsmacht. Juden ließen sich – mit britischer Zustimmung – schon vor der Shoa im britischen Mandatsgebiet Palästina nieder, was sehr schnell zu Konflikten führte mit der ansässigen palästinensischen Bevölkerung. Beide Seiten nutzten frühzeitig terroristische Gewalt – untereinander und gegen die britische Mandatsmacht. Nach dem militärischen Sieg von 1948 und der Staatsgründung hat Israel in den letzten 70 Jahren sein Staatsgebiet immer weiter ausgedehnt (durch Annexion und Siedlungsbau), während die Palästinenser unter unsagbaren Bedingungen leben müssen. Es ist falsch zu schreiben, Israel werde „wie kein anderes Land immer wieder sanktioniert“. Es hat viele UN-Resolutionen gegen Israel gegeben, nicht jedoch Sanktionen, die von den USA immer wieder verhindert wurden. Israel respektiert seit Jahrzehnten die zahlreichen UNO-Beschlüsse nicht und kümmert sich nicht um die internationale Verurteilung seines Besatzungsregimes. Leider hat keine dieser Resolutionen, auch keine europäische, wirksame Sanktionen beschlossen, die Israel wie einst Südafrika oder gestern Russland hätten zwingen können, die unter der israelischen Besatzung lebenden, die vertriebenen und in Gaza zusammengepferchten Palästinenser als gleichberechtigte Menschen innerhalb Israels anzuerkennen oder ihnen einen eigenen Staat zuzugestehen. Die leidvolle Vergangenheit der Juden in Europa und anderswo entbindet Israel nicht von der Einhaltung menschenrechtlicher Standards. All das muss gesagt werden dürfen, ohne in den Verdacht des Antisemitismus zu geraten. Der palästinensische Terror gegen Israel sowie Angriffe oder Hassreden gegen Juden als solche sind damit keinesfalls gedeckt und müssen in jedem Fall geächtet und verfolgt werden.
Indem der Leitartikel in Nr. 419 die Befürworter der Jerusalemer Erklärung und ihre ernsthaften Überlegungen zur Definition von Judentum und Antisemitismus des Antisemitismus verdächtigt bzw. in dessen Nähe rückt, lenkt er von den wahren antisemitischen Hassparolen und Gewalttaten ab und erweist den Menschen jüdischer Konfession einen Bärendienst. Mit dem Vorwurf des Antisemitismus heißt es genauso aufpassen wie mit dessen Verharmlosung. In die Falle tappt aber, wer Kritik an der IHRA-Definition für antisemitisch ausgibt.
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