Das zurzeit geltende Wahlgesetz vom 3. Februar 2003 bestimmt in Artikel 89: „Le vote est obligatoire pour tous les électeurs inscrits sur les listes électorales.“ Und Artikel 90 legt die Strafen fest für Nicht-Wähler. Dazu soll der Staatsanwalt innerhalb eines Monats nach dem Wahlgeschäft Gemeinde für Gemeinde eine Liste der Wähler erstellen, die nicht an den Wahlen teilgenommen haben und die sich nicht vorher mit guten Gründen entschuldigt haben. Das Strafgeld soll zwischen 100 und 250 Euro, im Wiederholungsfall zwischen 500 und 1.000 Euro betragen. Die Wahlpflicht galt bereits im 19. Jahrhundert, als das Zensuswahlrecht nur Männer zu den Wahlen rief, die ein gesetzlich festgelegtes Minimum an Steuern zahlten.
Der Kampf ums Wahlrecht
Dass Wählen eine Pflicht ist, widerspricht auf den ersten Blick der Tatsache, dass Wählen ein Recht ist. Das Wahlrecht musste ja im 19. Jahrhundert gegen den Willen der absoluten Monarchen erkämpft werden, manchmal mit Gewalt, manchmal – so in Luxemburg – ohne Blutvergießen. Auf das Wahlrecht darf der Bürger also stolz sein. Die Geschichte des aktiven Wahlrechts ist eine Geschichte der ständigen Ausweitung des Wahlrechts1, zunächst, 1919, auf Frauen und auf Nicht-Steuerzahler, dann 1948 auf Personen, die nur wegen eines Vergehens verurteilt worden waren, und auf Bezieher von Sozialhilfe, 1972 durch Herabsetzung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre sowie durch Einbeziehung von Luxemburgern, die nicht im Großherzogtum wohnen. Während dank des Maastrichter Vertrags von 1992 das Wahlrecht auf kommunaler Ebene sowie für die Wahlen zum Europaparlament 1994 auch auf Ausländer ausgedehnt wurde, wurde dieselbe Erweiterung des Wählerkreises für die Legislativwahlen 2015 per Referendum abgelehnt.
In den Debatten im Vorfeld des Referendums spielte u. a. das Argument eine Rolle, dass viele wahlberechtigte Ausländer sich gar nicht auf die Wahlliste einschreiben lassen, von ihrem Wahlrecht also keinen Gebrauch machen. Diese Abstinenz hat zwei Gründe: Viele ausländische Mitbürger stammen aus Staaten, die Diktaturen sind oder waren, und sind es daher nicht gewohnt, demokratische Partizipationsrechte auszuüben, und zum anderen verstehen sie nicht, dass wenn sie sich auf die Wahlliste einschreiben lassen, sie unter Strafandrohung verpflichtet sind, an den Wahlen teilzunehmen.
Wahlpflicht besteht in Europa in der Tat nur in Belgien, Liechtenstein und Luxemburg; in Österreich wurde sie 1982 für die Nationalratswahlen und 2007 im letzten Bundesland auch für die Bundespräsidentenwahl abgeschafft. Die anderen Staaten gehen davon aus, dass Wahlrecht eine Ehre ist, höchstens eine moralische Pflicht, die man nicht gesetzlich aufzwingen sollte.
Keine Wahl ist auch eine Wahl
Daher kommt dann wohl auch die massive Wahlenthaltung in Ländern wie Frankreich oder Italien. In Frankreich erreichte der Anteil der Nicht-Wähler bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. April 2022 28 %; bei den Parlamentswahlen wurde der Rekord am 18. Juni 2017 mit 57,4 % erreicht. Am 19. Juni 2022 waren es 53,8 %. Diese Wähler überließen also einer Minderheit die Entscheidung, wer sie in der Assemblée nationale vertreten soll. In Italien beteiligten sich am 25. September 2022 nur 64 % der Wahlberechtigten an der Wahl. In beiden Ländern ist zweifellos die geringe Wahlbeteiligung einer der Gründe für das starke Abschneiden der rechtsradikalen Parteien: Sie mobilisieren ihre Anhänger, auch wenn keine Wahlpflicht besteht, während gemäßigte Parteien es viel schwerer haben, ihre Anhänger und vor allem Nicht-Anhänger zur Beteiligung an der Wahl zu bewegen. In anderen Worten: Wo keine Wahlpflicht besteht, ist die Gefahr des Wahlerfolgs extremistischer Parteien sicher größer.
In Luxemburg besteht wie gesagt Wahlpflicht. Nichtsdestotrotz nahmen 2018 im Zentrum 13 %, im Osten 11,7 %, im Süden und im Norden jeweils 8,1 % der Wahlberechtigten nicht an den Wahlen teil.2 Die Tendenz zur Wahlenthaltung ist auch bei uns seit Jahrzehnten steigend. Hinzu kommt, dass 2018 je nach Wahlbezirk zwischen 6 und 9 % der abgegebenen Wahlzettel blank oder ungültig waren, trotz Vereinfachung des Wahlverfahrens. Wahlenthaltung ist also auch in Luxemburg ein Fakt, der nicht mehr kleingeredet werden kann. Das ist umso bedenklicher, als ohnehin 2018 bei einer Gesamtbevölkerung von 600.000 Einwohnern nur knapp 250.000 Bürger – also nur 41,6 % – wahlberechtigt waren. Und trotzdem verzichtet die Staatsanwaltschaft seit Jahrzehnten (laut Wikipedia seit 1964) auf Strafverfolgung. Sie entscheidet in der Tat allein über die Opportunität, eine Strafverfolgung einzuleiten, und findet offenbar, die öffentliche Ordnung werde durch die aktuellen Zahlen nicht wesentlich gestört.
Pflicht und Verstoß
Im Zuge der Verfassungsreform wunderte sich die Commission de Venise, ein juristisches Gutachtergremium des Europarats, in ihrer Stellungnahme vom 18. März 2019: „§ 90. Le vote obligatoire est prévu par la loi, même si, en pratique, cette obligation n’est plus sanctionnée depuis longtemps. On peut se demander si une telle obligation est admissible dans le silence de la Constitution. Il serait dès lors préférable, soit de prévoir le vote comme un devoir au niveau constitutionnel, soit d’abolir une telle obligation.“3
Die Abgeordnetenkammer entschied sich dafür, die Wahlpflicht nunmehr auch in die Verfassung einzuschreiben, um dieser Bestimmung im Wahlgesetz Nachdruck zu verleihen. Dadurch wird in Zukunft der Verzicht auf Strafverfolgung umso widersprüchlicher. Entweder muss der Verstoß gegen die Wahlpflicht auch geahndet werden, oder die Wahlpflicht gehört abgeschafft. Eine Pflicht, die nicht eingehalten wird, riskiert die politische Moral zu unterminieren, die Einhaltung der Gesetze ganz allgemein als unwichtig erscheinen zu lassen.
1 Vgl. Michel Pauly, „Wie das allgemeine Wahlrecht noch allgemeiner wurde. Die Erweiterungen des Wahlrechts nach 1919“, in: #wielewatmirsinn. 100 Joer allgemengt Wahlrecht, hg. v. Musée national d’Histoire et d’Art / Chambre des Députés, Luxemburg, 2019, S. 218-233.
2 Eigene Berechnungen aufgrund der Ergebnisse auf https://elections.public.lu/fr/elections-legislatives/2018.html (letzter Aufruf: 24. Oktober 2022).
3 Documentation parlementaire n° 6030/28.
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