- Philosophie
Narcissus Narrans
Wie verstehen wir uns? – und warum ist diese Frage so wichtig?
Die Philosophie bemüht sich schon lange darum, den Prozess des kognitiven Verstehens aufzuschlüsseln. Ein wichtiger Baustein der Vorgänge, die die Interaktion mit dem Außen ermöglichen, scheint dabei das Bewusstsein zu sein. Bewusstsein an sich ist nur schwer zu bestimmen, vielleicht kann man sich darauf einigen, dass es mit einem Gewahrwerden der eigenen Gedanken, Person und der Situation, in der man sich im Sein wiederfindet, zu tun hat. Dazu kommt eine Art ordnender Prozess, mit dem wir uns die Eindrücke der Außenwelt zu eigen machen, sie also wahrnehmen, klassieren und bewerten.
Wir scheinen mental eine Struktur in die Sinneseindrücke zu bringen, die uns umgeben. Das lernen wir von Kind auf. Direkt suchen wir instinktiv nach Orientierungspunkten. Lernen durch Imitation und Adaptation bringt einen in ein erstes Verhältnis zum Leben in einem Umfeld. Man erlernt Verhaltensmuster, Charakter und auch teilweise Emotionen: Wenn meine Geschwister sich umarmen, lachen sie und sind froh. So umgibt sich der Mensch bereits früh mit Mustern, die ihm schnell vertraut werden. Er versteht dadurch, was geschieht, welche Rollen wer einnimmt, welche Normen für Handlungen gelten. Wichtig ist hierbei, dass weitere Muster im Nachfolgenden aus der eigenen Perspektive heraus verstanden werden: Strukturen und Muster passen wir oft unterbewusst so an, dass sie dem Paradigma entsprechen, das wir kennen.
Mit diesem Vorgang interpretieren wir das, was sich um uns herum ereignet. Es ist subjektiv geprägt – so auch weitere Erwartungen an das zukünftige Leben.
Ein weiteres grundlegendes Merkmal des Verstehens ist direkt mit der eigenen biologischen Beschaffenheit verwoben, nämlich mit Sequenzialität. Um es mit Hannah Arendt und Martin Heidegger zu sagen, der Mensch versteht das Leben anhand verschiedener Sequenzen, die er selbst durchlebt. Bei Arendt ist das Leben von der Geburt aus zu verstehen, auf die die Episoden Leben und Tod folgen, Heidegger bleibt der damaligen Tradition treu und entwickelt seine Theorie über das „Sein zum Tode“; erst durch den näherrückenden Tod versteht der Mensch sein Leben und in die Welt „Geworfenheit“, also Geburt. Wir sind in Episoden mit Anfang, Ereignis und Ende eingebunden, als stoffwechselnde Lebewesen haben wir da nicht so viel Einfluss. Interessant, dass auch unser Verstehen solche Sequenzen benötigt und in Zeitabschnitte kategorisiert. So brauchen wir meist Geschichten mit Anfang und Schluss, temporal geordnet, um das sich Ereignete zu lesen und uns darin zu orientieren. Unser Gehirn formt sich also auch in diesem Sinne gerne seine eigenen Episoden, die zu dem passen, was bereits subjektiv-paradigmatisch zu Grunde liegt.
Verstehen heißt hier, „sich einen Reim“ aus dem Erlebten machen: eine Geschichte formen, eine wahre oder unwahre Darstellung des Lebens, die mit allerlei Inhalt gefüllt sein kann. Die Art dieses Inhalts ist dabei kontingent, subjektiv verschieden – je nach persönlichem Kontext, eigenen Vorstellungen und Erwartungen, wird ein Mehr in die Episode gelegt, sie wird subjektiv transformiert. Dabei wird eine Kohärenz mit unserem Weltverständnis generiert, also eine Ordnung, die uns Sicherheit gibt. Gottseidank haben wir diese mentalen Orientierungspunkte. Im Chaos leben wir nämlich nicht gern, denn es bedeutet Unklarheit, Verwirrung und damit auch Unsicherheit. Manchmal kompensieren wir deswegen; wenn etwas nicht so lief, wie man es dachte, sucht man Erklärungen, Ausgleiche, bestimmte Positionen, Konstruktionen, die das Verstehen wieder nach unserem Schema ordnen. Momente, die für uns nicht wichtig sind, werden vielleicht weggelassen, einiges wird vereinfacht – anderes muss sehr prägnant hervorgehoben werden. Das heißt, mit jeder Episode, die wir mental kreieren, verändern wir das Erlebte auch ein wenig. Wenn die Erzählung dann wieder zu dem passt, was wir kennen, so, wie wir es verstanden haben möchten, stellt sich eine positive Emotion ein.

Bestimmt haben Sie dies bereits miterlebt. Sucht ein gewichtiges Ereignis die Gesellschaft heim, dann sind schnell verschiedene Erzählstränge im Angebot, die das Geschehene klarer werden lassen sollen. Ab 2020 gab es bzgl. der Corona-Pandemie Auslegungen noch und nöcher. Von welcher man sich am ehesten angesprochen fühlte, hing davon ab, was man vorher als normativen Maßstab des Wahren inkorporiert hatte. Wer sich an die Findungen der modernen Wissenschaften hält, hatte dabei eine andere Darstellung des Erlebten als jemand, der eher skeptisch mit dem übermittelten öffentlichen Narrativ umgeht. – Auf jeden Fall hat man „Recht“, wenn sich die eigene Denkungsart mit einer extern übermittelten deckt. Quasi eine Belohnung von außen durch die Konfirmation dessen, was wir uns ohnehin bereits dachten.
Narrativ ist nun hierbei unser Schlagwort. Ein Begriff, der sich in den letzten Jahren sehr viel deklinieren lassen musste. Narrative, also Geschichten, gab es schon immer, aber seit dem Anstieg des Digitalen zu allem in etlichen Ausführungen: im politischen Diskurs, in der Unternehmerszene, auf Social Media bei Lifestyle-Angeboten und natürlich soziologische Narrative, die uns erklären wollen, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert. All diese Narrative versuchen eine spezielle Vorstellung davon zu übermitteln, wie etwas verstanden werden soll.
Die Narrative, die uns hier vorwiegend interessieren, sind die der Identität. Identität, als Ich-Bewusstsein, ist die Geschichte, die wir über uns preisgeben, wenn uns wer fragt, wer wir sind. Wir ordnen erlebte (oder erträumte) Inhalte in einer gewissen sequenzialisierten Struktur, sodass ein darstellender Bericht entsteht, der preisgeben soll, wie man mich zu sehen hat.
Verfasser dieser Ich-Narrative sind wir dabei idealerweise selbst. Wir wissen ja am besten, was in unserer Vergangenheit wichtig war, was uns zu dem machte, was wir jetzt sind. – Idealerweise, wie gesagt. Denn die unbehagliche Frage, ob wir wirklich verstehen, wer wir sind, oder ob wir noch verstehen können, wie wir verstehen, wer wir sind, stellt sich mir mittlerweile ganz oft.
Angefangen hat das Unbehagen diesbezüglich schon vor einiger Zeit. Es scheint online, aber auch analog-gesellschaftlich ein gewisses Narrativ zu geben, das verspricht: „Du hast es geschafft, wenn …“ Jeder will es schaffen, glücklich sein, reich, gefühlsecht, hübsch, healthy and zen. Doch wer weiß, wann ich es geschafft habe? Wer kann mir vorgeben, wie mein persönliches „geschafft Haben“ auszusehen hat? Kontexte, Persönlichkeiten, alles ist so individuell verschieden, dass es da doch nicht die eine Geschichte geben kann, die maßgebend ist?
Wenn ich dem Wunschbild entsprechen möchte, dann muss ich dies und jenes tun.
Und doch scheint es Erwartungen zu geben, die drängen und drücken, die uns rastlos an der Self-Optimization und Selbstverwirklichung feilen lassen. Wo kommen diese Ansprüche her? Müssen wir wirklich so erfolgreich sein? Sind wir je gut genug? Unbehagen, erneut. Leiten uns dabei die Erwartungen der Leistungsgesellschaft? Oder ist es eine innere Sehnsucht? Noch mehr Unbehagen: wahrscheinlich sowohl als auch.
Sie kennen den unglücklichen Narziss, oder? Der Beau, der sich in sein Spiegelbild verliebte und doch nie glücklich wurde, obwohl das Objekt der Begierde ja er selbst war? Nein, das Problem ist ein anderes, behauptet Isolde Charim in „Die Qualen des Narzissmus“, denn das, in was sich Narziss verliebte, war bloß ein Abbild. Ein Bild – also nicht er selbst. Eine Trennung, sogar eine innere, von seinem eigentlichen Sein, und dem, wie er sich gerne sah. Die Parallele zum rastlosen Hier und Jetzt ist klar: Laufen wir einer Darstellung hinterher, die wir nie erreichen können, sind wir zu Unrast und Unglück verdammt. Wir können uns Idealen immer nur annähern. Ist das Ideal dann noch eins, welches uns von außerhalb aufgetragen wurde, mehr oder weniger unterschwellig eingetrichtert, ist die Trennung zwischen Ich und Idealbild noch ausgeprägter. Grundlage dieses Drangs nach Erreichen des Ideals ist laut Charim jedoch Sehnsucht. Nicht nach Erfolg oder Likes, sondern nach Einheit. Nach einer Einheit, die sich wie ein Zuhause-Sein anfühlt, wo es gar keine Wertung gibt, kein Anderes, nur das Ich in einer harmonischen, ozeanischen Einheit mit der Welt. So ein bisschen ist sich das vorzustellen, wie das Gefühl des Neugeborenen, das sich an die Brust der Mutter schmiegt und in nichts anderem als diesem Moment lebt, dieses Gefühl der Nähe und Weite, des Verschmelzens mit dem Gefühl: Alles ist gut.
Charim geht weiter: Es ist genau diese Sehnsucht nach diesem Gefühl, die uns von dem Moment an, wo wir erfahren, dass es neben dem Ich noch das Andere gibt, sogar in Bezug auf uns selbst, treibt und quält. Mit keinem anderen als dem Psychoanalysten Lacan argumentiert sie: Sobald das Kind sich selbst im Spiegel sieht, das Bild seiner selbst als nicht es selbst begegnet, ist Unruhe gestreut. Denn diese Bilder von uns selbst, später, wie wir gerne wären, uns gerne sähen, erzählen Geschichten, die mit dem eigentlichen Ich-Sein nie komplett kompatibel sein können: Ich-Narrative also, Ich-Identitäten, Geschichten über das eigene Ich in Zukunft. – Wie wir uns danach sehnen, sie zu erreichen, wieder zu verschmelzen, mit dem Anderen und dem Ich …

Das große Problem ist, dass sich diese Hoffnung auf harmonische Einheit nicht offenkundig zeigt, sondern durch andere Wunschbilder verdecken lässt, die oft als Idealbilder einer Gesellschaft gehandelt werden (Schönheit, Erfolg, Reichtum …). Dies sind Narrative des idealen Ichs, die der ursprünglichen Sehnsucht gar nicht entsprechen können – sie trennen das Seiende-Ich gewaltsam von dem idealen Ich, indem sie Narrative erzählen, die nicht auf Einheit abzielen, sondern auf Vergleich, Konkurrenz und Profit. Das Perfide daran ist, dass sie nicht unschuldig von irgendwem erzählt werden, und dennoch unser episodisches Denken perfekt ankurbeln: Da der Mensch Sequenzen braucht, um die Welt gedanklich unter Kontrolle zu bringen, antizipiert er das Erreichen des Ideals durch logisch erscheinende kausale Abfolgen. Wenn ich dem Wunschbild entsprechen möchte, dann muss ich dies und jenes tun. Wem liegt denn daran, dass ich viel Zeit damit verbringe, einem Wunsch nachzuleben, einem Narrativ, ohne es je zu erreichen? Dass ich vielleicht keine Kosten scheue, Bedürfnisse zu befriedigen, die mich dem Ideal-Bild näher bringen sollen – für teure Produkte und Lifestyle-Ratgeber? Die Wirtschaft freut sich, denn dieser nimmersatte Drang nach dem Idealbild unserer selbst, diese „Ich-Zentriertheit“, wie Charim dies noch nennt, wird perfekt durch den Konsumkapitalismus bedient. So tragisch wie Narziss, der verzweifelt seiner Liebe hinterherrennt und nicht erkennt, dass es nur das Bild seiner selbst ist, das er nie erreichen kann, so rennen wir auch antrainierten Wünschen hinterher, die unsere eigentlich nicht sind. Diese haben unser vermeintliches Narrativ nach es „geschafft Haben“ dermaßen zweckrational dekliniert, dass sie zufällig ganz gut in eine Wirtschaftslogik passen. Vor lauter Rennen, Bewerten, Optimieren entfernen wir uns dabei immer mehr von dem, was wir uns so sehr wünschen, nämlich vom Ankommen bei sich selbst.
Adornos Kritische Theorie machte sich zur Aufgabe, Abhängigkeitsverhältnisse aufzudecken. Charim sieht nun im quälenden Narzissmus eine neue Erklärung für die Unterwerfung unter gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeme, die uns immer mehr drängen und rennen lassen. Ein modernes Abhängigkeitsverhältnis also, das den innersten und unschuldigsten Wunsch des Menschen manipuliert: die verschmelzende Wechselwirkung des Ichs mit der Welt – alles ist gut.
Nora Schleich ist promovierte Philosophin und arbeitet freiberuflich in Luxemburg. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Problemen und Phänomenen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Lebenswelt ergeben. Außerdem ist Nora Schleich Programmkoordinatorin der EwB ASBL.
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