- Philosophie
Diagnose: Zeugnisunfähig – Ich bestimme, ob du wissen kannst
Über perfide Aspekte des Machtmissbrauchs
„In als auch für sich selbst sein“, so Hegel in seinem Hauptwerk, der Phänomenologie des Geistes, umschreibt den „Zustand der Wahrheit der Gewißheit seiner selbst“. Ohne jetzt den Idealismus von Hegel zum Thema dieses Artikels zu machen, stellen die fast poetischen Worte des deutschen Philosophen die Entrée zur heutigen Reflexion dar. Im Zentrum der Überlegungen steht diesmal eine ganz besondere Art des Machtmissbrauchs; nämlich diejenige Macht, die ein Mensch über jemanden ausübt, wenn er diesem die Zeugnisfähigkeit abspricht – also die Selbst-Gewissheit dieses Menschen in Frage stellt, diskreditiert, indem er ihm das Wissen und Wissen-Können verneint. Das hat nicht nur ein ungerechtes und missbräuchliches hierarchisches Mit-einander zur Folge, sondern es werden auch soziale Verhältnisse grundsätzlich gestört. Wie das gehen soll, fragen Sie sich? Oder ob ich wohl wieder ein wenig zu verstrickt denke? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Anfangen sollten wir aber am besten am Anfang.
Was ist überhaupt Macht? Macht kommt von machen. Wirklich? Nein, der Begriff kommt vom indogermanischen mögen, vermögen, machen können. Power, Pouvoir, Potere – Potenzial. Er beschreibt somit eine Handlungsfähigkeit, ein Verhalten zur Welt (in der etwas veranlasst werden kann) und zu sich selbst (ich vermöge etwas zu machen). Machen meint in diesem Sinne, etwas realisieren durch eine Handlung, sodass die hervorgehende Idee Realität wird, oder dass mein Wirken, also Ich, sich materialisiert. In Raum und Zeit, in der Welt, in unserem lebenden Biotop. Sich machtvoll spüren bestätigt das: Ich spüre mein Potenzial, etwas realisieren zu können und einen Einfluss auf meine Umwelt zu haben. So sehe ich die Wirkung meiner Selbst in der Welt.
Derjenige, der etwas sieht, ist Zeuge davon. Es lohnt sich, auch auf diesen Begriff einzugehen: Zeuge kann ein Material sein, also ein Beweisstück, oder eine Person, jemand, der beweist oder die Wahrheit bekräftigt. Das englische witness bringt uns in unserer Überlegung allerdings noch weiter. Jemand, der ein Fakt, ein Geschehen bescheinigt, und dies aus persönlichem Wissen. Wissen – Wit? Ja! Es heißt auch Wissen. Mit wit beschreibt man die geistige (Leistungs-)fähigkeit, den Intellekt, Verstand und Bewusstsein. Dies stammt vom proto-germanischen wit und ist mit dem althochdeutschen wizzi liiert: Wissen, Verstehen, Intelligenz, Verstand. Im Gotischen meinte unwiti gar Ignoranz.
Ein Zeuge ist also ein Wissender, der auf gute Gründe, hier persönliche Erlebnisse, zurückgreifen kann, um die Wahrheit eines Geschehens oder eines Sachverhalts zu bescheinigen – also, dass etwas so oder so ist oder sich so oder so zugetragen hat.
Um den Bogen zu dem Vorherigen zu schlagen: Ich bin Zeuge meiner Macht, wenn ich etwas realiter geschehen lasse – in dem Sinne also auch Zeuge meiner Selbst, mir selbst als Person und Handelnder bewusst. Ich bin aber auch Zeuge von dem, was um mich herum geschieht. Durch Sprechen, Schreiben, bringe ich das zum Ausdruck, von dem ich bewusst Zeuge war. So gebe ich Zeugnis von dem ab, was ich erlebt habe, um es mit den Mitmenschen zu teilen. Dies beschreibt meine Zeugnisfähigkeit. Vor Gericht ist dies ausschlaggebend. Im juristischen Sinn setzt sie voraus, dass die Person wahrheitsgemäße Aussagen machen kann und in der Lage ist, Sinn und Bedeutung dieses Zeugnisses zu verstehen. Grundsätzlich sind alle Personen zeugnisfähig, es sei denn, sie sind in einem Zustand geistiger oder psychischer Störung oder es handelt sich um ganz junge Kinder, die die Tragweite einer Zeugnisaussage scheinbar nicht erfassen können.
Die Menschheit beweist tagein tagaus, dass Machtausübung nicht nur romantisch das Entfalten des eigenen Potenzials in der Welt meint, sondern dass Macht im Alltäglichen viel eher eine Kraft beschreibt, um sich die Welt und deren Insassen so zu Nutzen zu machen, wie es einem beliebt. Wer Macht hat, hat Entscheidungs- und Handlungsgewalt. Nach der berühmten Definition Max Webers ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Macht ist also notwendig, um etwas zu erreichen. Der Philosoph Thomas Hobbes legt aus, dass alle Antriebe des Menschen auf das Verlangen nach Macht zurückzuführen sind, ein unersättliches Verlangen allerdings, sodass auch ein „Übergewicht der Macht des einen über den anderen“ entsteht. Mit Michel Foucault gesprochen erstellt Macht eine Distanz im Miteinander. Macht ausüben kann nämlich auch bedeuten, sich brutal gegenüber jemandem rücksichtslos zu behaupten, auch gegen Recht und besseres (moralisches?) Wissen. Dies vollzieht sich sowohl in Familien, Institutionen, in der gesamten Gesellschaft. Immer dann, wenn von Akteuren eine höhere Stellung beansprucht wird, deren Besitz vielleicht gar keinen wirklichen Boden hat und sich durch Willkür und dunkle Machenschaften auszeichnet. Die Beispiele sind vielfältig und reichen vom Wegschließen, über gewaltsame Disziplinierung bis hin zur strukturellen und systemischen Beschränkung. Dabei braucht es nicht unbedingt einen speziellen Ort, dies deckt sich ganz oft mit dem Begehren nach Kontrolle im Leben.
Wir interessieren uns heute für eine besondere Form der psychologischen Machtausübung; nämlich dann, wenn ich mich über jemand anderes behaupte, indem ich ihm die Zeugnisfähigkeit abspreche; ihn als „nicht für voll“ nehme oder erkläre, dass man ihn nicht ernst nehmen kann, aus welchen Gründen auch immer. Das ist eine drastische Form der Gewalt. Drastisch, weil sich äußern, Wahrnehmungen und Ideen vermitteln, Probleme ansprechen, Lösungen mitgestalten, zum grundlegenden, kommunizierenden Miteinander der Menschen gehört. Unsere Stimme will gehört werden; wir wollen Zeugnis über unser Lebensverständnis und unsere Erfahrungen ablegen.

Wie kann man einem diese Zeugnisfähigkeit entziehen? Nun, indem man ihm die Fähigkeit, die Wirklichkeit wahrzunehmen und zu interpretieren, abspricht. Ein Beispiel: Nehmen wir an, eine Frau sitzt im Café und berichtet über ein Erlebnis, das sie aufregt. Vielleicht ist sie Opfer sexistischer Bemerkungen geworden und fühlt sich verletzt. Sie spricht schnell, schimpft eventuell. Die um sie herumsitzenden Männer (ja, für unser Beispiel ist es plakativ gehalten) fangen an zu schmunzeln, Frauen … immer so hysterisch und kreischend. Was passiert durch dieses Vorurteil? Implizit, mehr oder weniger unbewusst, wird der berichtete Vorfall als nicht so schlimm eingestuft. Frauen regen sich ja so schnell auf. Das ist mehr als nur ein Bedienen des Vorurteils, es ist eine Machtausübung gegenüber jemandem, der einen Missstand anspricht. Indem ihr nicht in vollem Maß geglaubt wird, weil laut Vorurteil die Frau ja ohnehin meist übertreibt, werden die von ihr geteilten Informationen als nicht zuverlässig eingestuft, obwohl sie sehr wohl eine vertrauenswürdige Berichterstatterin ist, der die Ungerechtigkeit ja zudem selbst widerfahren ist. Das Bild der emotionalen, schwachen Frau ist seit jeher dem des rational überlegenden, ruhigen und mit klarem Verstand agierenden Mann, der weiß, wie es wirklich läuft, gegenübergestellt. Aus diesem Récit entspringt ein Mindset, das ihr den rechtmäßigen Umgang mit den Eindrücken ihres Umfelds nicht zutraut – und im Handumdrehen auch Zugang zu Wissen um die Wirklichkeit abspricht.
Weitere Beispiele gibt es noch und nöcher, und sind alle von Vorurteilen und ideologisierten Narrativen zu deduzieren: Der gebildete Westen ist den ahnungslosen primitiven Afrikanern überlegen, in Sachen Moral und Savoir-Vivre hat das Bildungsbürgertum gegenüber Armen die Nase vorn, People of Colour oder L+∀-Personen1 „führen einen auf“, wenn sie strukturelle Ungerechtigkeiten ansprechen und ihre Bedürfnisse kundtun. Auch das extreme Beispiel von Vergewaltigungsopfern, die, wenn sie bereits systemische Diskriminierung erlebt haben, davon absehen, Anzeige zu erstatten, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen ohnehin keiner glaubt, ist gleichwie Symptom und Konsequenz genau dieser verinnerlichten Auffassungen. Wenn Frauen im Beruf Führungsqualitäten abgesprochen werden, dann macht der Status Frau eine gleiche Behandlung a priori unmöglich.
Es ist noch subtiler: Wenn eine Ärztin keinen Kittel trägt und vielleicht per Zufall leger im Kleid, ohne Stethoskop, in das Behandlungszimmer kommt, hat man dann Gedanken wie: „Ah, die Sprechstundenhilfe – was? Ist das jetzt meine Ärztin?“ Ein Anwalt sagte mir einmal, er müsse Krawatte und Anzug tragen, denn die Klienten wollen diesen geschniegelten und gestriegelten Look. Dafür bezahlen sie ja schließlich auch. Kann der im Gothic-Look erscheinende Typ mit blauen Haaren im richtigen Leben wirklich Bankdirektor sein? Kompetenz- und Wissenseinschätzung werden demnach direkt durch tendenziöse Stereotypen beeinflusst. Dies ist eine gedankliche soziale Konditionierung, die zu weiteren, unerkannten Opfern einer strukturellen Diskrimination führt. Wenn wir den Eindruck haben, jemand hätte keine Ahnung, auch unbewusst, dann wird ihm implizit weniger Glauben geschenkt. Der Kontext, in den wir eine Person setzen, bestimmt, wie wir sie einschätzen. Wir alle können weitere Beispiele aus dem persönlichen Erleben schildern.
Einem die Kraft seiner Wörter oder seines Wissens abzusprechen, ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtausübung und schafft Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber demjenigen, der angibt, zu wissen. Überzeuge ich andere davon, dass Person X nicht Herr der Lage ist, obwohl Person X ganz klar bei Sinnen ist, dann beschneide ich diese Person zu einem Großteil der Möglichkeit, gehört zu werden oder dass ihr geglaubt wird. Es ist eine Herabwürdigung, jemandem Vernunft und Intellekt zu verneinen, besonders in dem von der Aufklärungsbewegung geprägten Westen, wo Ratio und Logik ganz hohe Güter sind. Mit diesem Akt verhindere ich, dass die Person als vollkommener Mensch angesehen wird, ich beschränke ihre Teilhabe an der kollektiven Wissensbildung, an Erkenntnis und Interpretation der Welt und des Lebens. Sie weiß ja nicht, von was sie spricht. Das stellt eine Art Entwurzelung dar, die besonders dann ganz perfide wird, wenn dieser Person weitere Ungerechtigkeiten angetan werden, die sie zu benennen hat, um die Tat an sich bemerkbar zu machen und den Schuldigen zu definieren. Das Schwert ist in diesem Fall äußerst scharf und zweischneidig: Zum einen wird der Person nicht geglaubt, zum anderen lernt die Person, dass ihr nicht zu glauben ist. Ihre Äußerungen sind von vornherein als substanz- oder sinnlos gelabelt, – was, wenn sie das auf einmal selbst von sich glaubt? Opfer von narzisstischen und manipulativen Tätern wissen an einem gewissen Punkt oft selbst nicht mehr, was wahr ist – sind sie vielleicht dabei, verrückt zu werden? Nein, das Gegenüber weiß es nur, nach und nach ihre Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen und zu benennen, zu verstümmeln.
Kann der im Gothic-Look erscheinende Typ mit blauen Haaren im richtigen Leben wirklich Bankdirektor sein? Kompetenz und Wissenseinschätzung wird demnach direkt durch tendenziöse Stereotypen beeinflusst.
So nimmt man Menschen die Kraft und Macht, Wörter auf etwas zu setzen, auf das, was sie bezeugen könnten oder müssten: Ungerechtigkeit, Macht, Missbrauch. Natürlich nicht ohne Grund, wer möchte schon als Vergewaltiger, als Missetäter, als jemand, der seine Macht missbraucht oder von Diskriminierung profitiert, „bezeugt“ werden?
Da ich ja ohnehin keine Stimme mehr habe, bringt es nichts mehr, etwas zu sagen. Ich traue meinen eigenen Wörtern nicht mehr, zensiere mich selbst, verliere mich, verstehe nicht mehr, was geschieht, ob es Unrecht ist oder nicht, meine Begriffe haben keinen Platz mehr im sozialen Sinngefüge, sie schwinden, ich habe keine Erklärungen – ich füge mich. So kann das tatsächliche Opfer sich nicht mehr als Opfer verstehen, weil ihm dieses Begreifen, das sich durch das Wissen um die eigenen Erfahrungen und Eindrücke, und durch den Austausch dieses Erlebten nährt, genommen wurde.
Und dies, weil jemand beschloss, dass es so ist, weil Wahrheit unbequem ist, weil Schuld eingestehen Konsequenzen haben kann – und, noch viel drängender und triefender: weil das eigene Weltbild hinterfragen, Konventionen sezieren und Paradigmen wechseln soviel Angst macht, dass Gewalt und Macht zu vergifteten Alternativen werden. Denn, wer anderen aus Eigennutz verwehrt, Mensch zu sein und an der Konstitution der Lebenswelt teilzuhaben, dem schenkt man besser weder Glauben noch Vertrauen. Um nicht verbittert zu schließen, verweise ich hier auf Recht und Moral, die Macht durch Macht zu begrenzen wissen.
Nora Schleich ist promovierte Philosophin und arbeitet freiberuflich in Luxemburg. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Problemen und Phänomenen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Lebenswelt ergeben. Außerdem ist Nora Schleich Programmkoordinatorin der EwB ASBL.
1 Das mathematische Symbol ∀ meint „alle“. Also sind mit L+∀ einfach alle gemeint. Diese Formel stammt von der Autorin selbst.
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