200 Jahre Großherzogtum

Zur Anerkennung der Existenz eines Staates gehören traditionell drei Voraussetzungen: ein Territorium, die souveräne Machtausübung über dieses Territorium und ein Staatsvolk. Diesen drei Bedingungen fügte Gilbert Trausch eine vierte hinzu: das Einverständnis seiner Nachbarn. Im folgenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, ab wann welche dieser Bedingungen in Luxemburg erfüllt waren.

Was die Schaffung eines Luxemburger Staatsgebiets anbelangt, ist die Antwort recht einfach: Der Wiener
Kongress, der am 10. Juni 1815 zum Abschluss kam, hielt in Artikel 67 der Schlussakte fest, dass ein neuer Staat namens Großherzogtum Luxemburg geschaffen werde und übertrug ihn „dem souveränen Fürsten der Vereinigten Provinzen, jetzigem König der Niederlande, […] um auf immer von demselben und seinen Nachfolgern als souveränes Eigentum besessen zu werden“. Und Artikel 68 umschrieb die Grenzen dieses neu geschaffenen Staates, zu dem laut Artikel 69 auch das einstige Herzogtum Bouillon gehören sollte, das nie ein Teil des ehemaligen Herzogtums Luxemburg gewesen war. Damit wurde ein Staatsterritorium von 6900 km2 definiert, das nicht Teil des Königreiches der Niederlande war. Die Grenzen des Letzteren waren in Artikel 66 festgelegt.

Mit dieser Entstehungsgeschichte ist auch die von Gilbert Trausch formulierte vierte Voraussetzung erfüllt: Es waren die europäischen Herrscher, die aus Gründen des Mächtegleichgewichts diesen Beschluss auf dem Wiener Kongress fassten. Die 320000 Einwohner dieses Territoriums waren weder nach ihrer Meinung gefragt worden, noch hatten sie sie spontan geäußert, wie etwa das deutsche Bürgertum, das ein einig Vaterland wünschte, aber von den in Wien tagenden Herrschern bzw. deren Vertretern nicht gehört wurde. Auch in den nächsten 100 Jahren waren es immer wieder die Regierungen der Nachbarstaaten
bzw. europäischer Großmächte, welche die Existenz eines Großherzogtums Luxemburg garantierten, wenn es von anderen in Frage gestellt wurde: So 1839 auf dem Londoner Kongress, als die Vertreter Großbritanniens, Frankreichs, Österreich-Ungarns, Preußens und Russlands mit Zustimmung Belgiens die Teilung des in Wien geschaffenen Territoriums beschlossen, nachdem die Einwohner Luxemburgs 1830 mit den Belgiern das Königreich Belgien gegründet hatten (s.u.). Und es war 1867 der Fall, als wieder in London dieselben Großmächte die Existenz Luxemburgs bestätigten, nachdem Napoleon III.,
Kaiser der Franzosen, dem König-Großherzog Wilhelm III. das Großherzogtum hatte abkaufen wollen; sie verlangten den Abzug der Bundesgarnison und das Schleifen der Festung, da der Deutsche Bund infolge des deutsch-österreichischen Krieges zerbrochen war, und verpflichteten das Land zur militä-rischen Neutralität, die sie garantieren wollten. 1919 vereitelte Frankreich belgische Wiedervereinigungsbestrebungen, nachdem Luxemburg sich während des Krieges als etwas zu deutschfreundlich erwiesen hatte. Und war dies nicht auch noch 1944 der Fall, als das Land nur mit Hilfe der Alliierten den nazideutschen Besatzern entrissen werden konnte?

Souveränität?

Was die Frage der Souveränität auf dem 1815 definierten Staatsgebiet anbelangt, sind die Verhältnisse etwas komplizierter und die Historiker unterschiedlicher Meinung. Fest steht, wenn man Artikel 67 der Wiener Schlussakte liest, dass das Land als Kompensation für vier nassauische Fürstentümer auf dem rechten Rheinufer, die Preußen zugeschlagen
wurden, gedacht war. Dem König-Großherzog wurde deswegen die volle Souveränität über dieses Territorium zugeschrieben, außer was die Beziehungen des Großherzogtums zum Deutschen Bund anbelangte.

Für Paul Weber, neben Auguste Collart und Jules Mersch ein Vertreter der Luxemburger Geschichtsschreibung orangistischer1 Prägung, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte, war das kein Problem2: „Staatsrechtlich gehörte das Großherzogtum dem König von Holland, der es auf Wunsch dem eigenen Reich einverleiben konnte.“ In der Tat schrieb König-Großherzog Wilhelm I. von Oranien-
Nassau ins niederländische Grondwet: „Das Großherzogtum Luxemburg, in den durch den genannten Wiener Vertrag festgestellten Grenzen, unter der nämlichen Souveränität wie das Königreich der Niederlande, wird nach derselben Verfassung regiert, unbeschadet jedoch seiner Verbindung mit dem Deutschen Bunde.“ Und an den Generalstaaten sollten neben 106 Vertretern der anderen 17 Provinzen vier Vertreter aus Luxemburg teilnehmen. 85 von 95 (vom König-Großherzog berufene) Vertretern des ehemaligen Herzogtums Luxemburg stimmten in der Notablenversammlung am 14. August 1815 diesem Grundgesetz zu; nur zehn Vertreter aus dem Kreis Marche-en-Famenne/Saint-Hubert stimmten wie 60% der Abgeordneten der belgischen Provinzen erfolglos mit Nein. Seither galten in Luxemburg dieselben Steuer- und Schulgesetze, dieselbe
Gerichts- und Verwaltungsorganisation usw. wie in den anderen Teilen der Vereinigten Niederlande.

Von Historikern wie Arthur Herchen, Albert Calmes (mit ausführlicher, quellengesättigter Begründung3) und Gilbert Trausch wurde diese Entwicklung als Usurpation und Verletzung der Wiener Schlussakte empfunden. Trausch schrieb 19894: „Au mépris des stipulations du Congrès de Vienne (Guillaume Ier) ne traite pas le grand-duché comme un Etat souverain séparé mais comme une simple province des Pays-Bas, la 18e.“ und weiter: „Les puissances européennes créent […] un Etat nouveau, le grand-duché et l’attribuent au roi des Pays-Bas. Ce dernier le viole tout de suite en l’annexant à son royaume.“

Die Frage nach der Auslegung des Souveränitätsbegriffs dürfte aus Luxemburger Sicht eine der spannendsten sein, die sich auf der vom Geschichtsins-titut der Uni Luxemburg am 10.-12. Juni 2015 in Neimënster organisierten internationalen Tagung über den Wiener Kongress stellen wird.

Nation?

Mit der eben erwähnten Zustimmung der Notablen zum niederländischen Grundgesetz ist auch die Frage nach dem Staatsvolk angeschnitten, dem dritten, konstitutiven Element eines Staates. Diesen handverlesenen Honoratioren mag man zu Recht jede Repräsentativität absprechen, doch bis ins späte 19. Jahrhundert ist auch keine andere Bekundung eines Willens auf Eigenstaatlichkeit von Seiten der Einwohner des Großherzogtums vernehmbar. Gegen die steuerrechtliche und sprachpolitische Einverleibung des Großherzogtums in das Königreich der Vereinigten Niederlande wehrten sich die Luxem-
burger zwar Ende August 1830, zusammen mit dem liberalen Bürgertum und der katholischen Kirche in Belgien, die sich gegen die absolutistische und calvinistische Herrschaft auflehnten. Sie nahmen daher aktiv an der Abspaltung der Südprovinzen und an der Gründung eines eigenständigen Königreichs Belgien teil. Einen eigenen Staat Luxemburg forderte keiner der Beteiligten aus Luxemburg. Während ab September 1830 im ganzen Lande die belgische Fahne gehisst wurde und junge Luxemburger nach Brüssel zogen, um dem neuen Staat im Kampf gegen die niederländische Armee zu helfen, nahmen nur die Einwohner der Hauptstadt nicht an der belgischen Revolution teil, weil einerseits das dortige Bürgertum in Staatsdiensten orangistisch eingestellt war, und andererseits die preußische Garnison in der Bundesfestung keine revolutionären Unruhen aufkommen ließ.

Als am 6. Oktober 1830 der niederländische Gouverneur Jean-Georges Willmar proklamierte, der Wiener Kongress habe ein und demselben Fürsten zwei „voneinander unabhängige Souveränitäten“ anvertraut, und weiter schrieb: „Eine eigene Volksthümlichkeit (nationalité) … ist dem Lützemburger Boden anklebend“, die durch eine belgische Einmischung verletzt würde, war das zwar eine 180°-Kehrtwende in der Luxemburg-Politik Wilhelms I., doch sie kam zu spät. Am 16. Oktober 1830 hatte die belgische Regierung beschlossen, dass Luxemburg Teil Belgiens sei, und einen eigenen Gouverneur mit Sitz in Arlon ernannt. Bei den (Zensus)Wahlen zur Nationalversammlung stellte Luxemburg 16 der 200 Abgeordneten. Der 1815 geschaffene Staat namens Luxemburg war somit de facto auf das Territorium der Stadt Luxemburg geschrumpft.

Die Londoner Konferenz der Großmächte, an die Wilhelm I. appelliert hatte, erkannte am 20. Dezember 1830 die Unabhängigkeit Belgiens an. Was die Zukunft Luxemburgs anbelangte, legten die Diplomaten einen Kompromiss vor, der auf eine Teilung des Großherzogtums zwischen Belgien und dem
König-Großherzog hinauslief. Das belgische Parlament akzeptierte den Vertragsentwurf, Wilhelm nicht. Es blieb beim Status quo einer belgischen Verwaltung außer in der Hauptstadt.

Erst 1838 entschloss sich Wilhelm I., unter dem Eindruck einer sich entvölkernden Hauptstadt, die Teilung des Großherzogtums anzuerkennen. Obschon in Belgien erstmals patriotische und demokratische Stimmen laut wurden, die den Respekt vor dem Willen der Luxemburger zur Einheit mit Belgien forderten, stimmte auch das belgische Parlament mit 58 zu 42 Stimmen zu. Dagegen hatten alle Luxemburger Abgeordneten gestimmt, da sie für den Einheitsstaat eintraten. Nur die beiden Luxemburger in der belgischen Regierung, Nothomb und Willmar, waren dafür. Der Londoner Vertrag vom 19. April 1839 besiegelte die Teilung in einen wallonischen Westen, der bei Belgien blieb, und einen germanophonen Osten, der definitiv selbständig wurde, mit dem niederländischen König als großherzoglichem Herrscher.

Fassen wir zusammen: Von den vier eingangs genannten Bedingungen, die erfüllt sein müssen, dass man ein Territorium als Staat bezeichnen kann, waren 1815 drei erfüllt, auch wenn der Souverän die dem Luxemburger Staatsterritorium vom Wiener Kongress zugesprochene Souveränität anders ausübte als vorgesehen und erst 1840 eigene rein luxemburgische Staatsorgane geschaffen wurden. Nur die Bildung eines Staatsvolkes, einer Nation, erfolgte erst nach 1815 wenn nicht erst nach 18395. Doch ohne den Wiener Kongress hätte es keinen Londoner Vertrag geben können. Das Großherzogtum Luxemburg ist also nicht 1839, sondern 1815 geschaffen worden.

Staatsfeiern?

Dass die Aufteilung des Luxemburger Staatsgebiets auf zwei Länder seit 1939 als Tag der Unabhängigkeit gefeiert wird, hatte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs seinen guten Grund: Es war die Gelegenheit, den Nachbarstaaten, insbesondere dem östlichen, zu zeigen, dass das Luxemburger Volk unabhängig war und bleiben wollte. Dass Gilbert Trausch 1989 dieses Datum aufgriff6, um der Regierung die Organisation einer großen Ausstellung vorzuschlagen, und am 19. April 1989 in Anwesenheit der Staats- und Regierungschefs der Unterzeichnermächte von 1839 sowie des UNO-Generalsekretärs ein Staatsakt stattfand, hatte ebenso weniger historische Gründe als tagespolitische: Es galt, wie mir Ehrenstaatsminister Jacques Santer am 18. Oktober 2014 nach einem Vortrag zu diesem Thema bestätigte, dem aufkommenden Nationalismus (Aktioun Lëtzebuergesch, Eist Land — Eis Sprooch, Nationalbewegung, …) den Wind aus den Segeln zu nehmen.7

Warum aber der wahren Geburtsstunde des heutigen Luxemburg nur mit einer Briefmarke, einer Silbermünze und einer wissenschaftlichen Tagung, auf der immerhin Außenminister Jean Asselborn eine Rede halten wird, gedacht wird, obschon nicht nur der Unterzeichnete in seiner Festrede vom
19. April 2014, sondern auch der Staatschef Großherzog Henri in seiner Ansprache zum Nationalfeiertag 2014 darauf hingewiesen hatten, lässt sich wohl nur mit dem noch ausbaufähigen Geschichtsbewusstsein der derzeitigen Regierung erklären, für das es ja noch andere Beispiele gibt. Feiern sind tatsächlich wichtig, wenn man ein „National“-Bewusstsein bzw. den sozialen Zusammenhalt einer Bevölkerung stärken will. Wer sich seiner Geschichte bewusst ist, hat weder Angst vor Neuerungen noch vor dem Austausch mit Menschen, die eine andere Geschichte erlebt haben.

Gerade im Hinblick auf das Referendum am 7. Juni 2015 hätte man mit historischen Argumenten zeigen können, dass einerseits von einer Luxemburger Nationalität weder 1815 noch 1839 die Rede sein konnte. Noch 1867 kann man in dieser Hinsicht Zweifel haben. Auch einen Luxemburger Pass gab es damals noch nicht. Das Wahlrecht war an das Alter, das männliche Geschlecht und an eine hohe Steuerabgabe gebunden. Es allein an die Nationalität zu binden, ist zumindest ahistorisch. Und andererseits hätte man zeigen können, dass die Entstehung einer Nation und einer nationalen Identität ein immerwährender Prozess ist, der nie abgeschlossen ist. Wer diese Identität zum Erstarren bringen will, tötet sie. Nur stetige Anpassung an die sozialen Realitäten, lies die Inklusion von Menschen mit anderen Pässen und soziokulturellen Hintergründen erlaubt dieser nationalen Identität sich weiter zu entwickeln und somit zu überleben.u

Als Orangisten bezeichnet man die Anhänger der holländischen Dynastie Oranien-Nassau.
Paul Weber, Geschichte des Luxemburger Landes, Luxemburg 19402, S. 222. Vgl. auch Jacques Maas, La révolution de 1848 n’a pas eu lieu. L’historiographie de tradition orangiste et l’œuvre d’Albert Calmes, in: forum Nr. 185 (1998), S. 52f.
Albert Calmes, Naissance et débuts du Grand-Duché 1814-1830. Le Grand-Duché de Luxembourg dans le Royaume des Pays-Bas (Histoire contemporaine du Grand-Duché de Luxembourg, vol. 1), Luxembourg 1971.
Gilbert Trausch, Le Luxembourg — Émergence d’un État et d’une Nation, Anvers 1989, 20072, S. 189/192.
Vgl. Pit Péporté, Sonja Kmec, Benoît Majerus und Michel Margue,
Inventing Luxembourg. Representations of the Past, Space and Language from the Nineteenth to the Twenty-First Century, Leiden/Boston 2010; Michel Pauly, Luxembourg 1839-2014, in http://hdl.handle.net/10993/16549.
Er hat das Datum in vielen Reden gerechtfertigt; vgl. Gilbert TRAUSCH, La signification historique de la date de 1839. Essai d’interprétation, Luxembourg: Ministère d’État, 1989.
Vgl. forum Nr. 112 (1989).

Acte final du Congrès de Vienne du 9 juin 1815

Article 67.

La partie de l’ancien Duché de Luxembourg, comprise dans les limites spécifiées par l’article suivant, est également cédée au Prince Souverain des Provinces- Unies, aujourd’hui Roi des Pays-Bas, pour être possédée à perpétuité par lui et ses successeurs en toute propriété et souveraineté. Le Souverain des Pays-Bas ajoutera à ses titres celui de Grand-Duc de Luxembourg, et la faculté est réservée à S. M. de faire, relativement à la succession dans le Grand Duché, tel arrangement de famille entre les princes ses fils qu’elle jugera conforme aux intérêts de sa monarchie et à ses intentions paternelles.

Le Grand-Duché de Luxembourg servant de compensation pour les Principautés de Nassau-Dillenbourg, Siegen, Adamar et Dietz, formera un des États de la Confédération germanique, et le Prince Roi des Pays-Bas entrera dans le système de cette Confédération comme Grand-Duc de Luxembourg, avec toutes les prérogatives et privilèges dont jouiront les autres Princes allemands.

La ville de Luxembourg sera considérée, sous le rapport militaire, comme forteresse de la Confédération. Le Grand-Duc aura toutefois le droit de nommer le gouverneur et commandant militaire de cette forteresse, sauf l’approbation du pouvoir exécutif de la Confédération, et sous telles autres conditions qu’il sera jugé nécessaire d’établir en conformité de la constitution future de ladite Confédération.

Article 68.

Le Grand-Duché de Luxembourg se composera de tout le territoire situé entre le Royaume des Pays-Bas, tel qu’il a été désigné par l’article 66, la France, la Moselle jusqu’à l’embouchure de la Sure, le cours de la Sure jusqu’au confluent de l’Our, et le cours de cette dernière rivière jusqu’aux limites du ci-devant canton français de Saint-Vith, qui n’appartiendra point au Grand-Duché de Luxembourg.

Quelle: http://mjp.univ-perp.fr/traites/1815vienne2.htm#pb

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