Auf krummen Wegen zur offenen Stadt

Die Ausstellung „1867 – Luxembourg ville ouverte“ im M3E

Noch bis Ende 2017 verspricht die Sonderausstellung „1867 – Luxembourg ville ouverte“, die im Musée Dräi Eechelen (M3E) präsentiert wird, Ursachen, den Prozess und die Folgen der Öffnung der Jahrhunderte alten Festungsstadt Luxemburg verständlich zu machen.

Wie die Dauerausstellung im M3E zeichnet sich auch die neue Ausstellung durch eine überwältigende Fülle an Material aus. Geschichtskundigen Besucherinnen und Besuchern bietet sie die seltene Gelegenheit, sich aus nächster Nähe mit Archivdokumenten zu befassen, die sie bisher nur aus Geschichtsdarstellungen kannten. Nicht geschichtsaffine Besucher, die auf die Hilfe von klaren erklärenden Raumtexten und Objektbeschriftungen angewiesen sind, um den historischen Kontext und die Beziehungen der Exponate zueinander zu verstehen, sind aber häufig überfordert. Obwohl manche Vitrinen mit Überschriften versehen sind, bleibt die Struktur der Schau undurchsichtig, und der Besucher versteht die Zuteilung der Objekte zu den einzelnen thematischen Abteilungen nicht immer. So stellt sich z.B. die Frage, in welchem Zusammenhang Louis-Alphonse München, Kommandant des Jägerbataillons, also der 1868 neu geschaffenen Luxemburger Armee, der in einem grossformatigen Ölporträt dargestellt wird, zu den Abrissarbeiten auf Kirchberg (gemeint sind die Forts Niedergrünewald und Olizy, Obergrünewald und Thüngen) steht, da sie in derselben Sektion ausgestellt sind.

Bedauerlich ist, dass die Gestaltung den geschichtsträchtigen Ort, an dem sich das Musée Dräi Eechelen befindet, nicht aktiv für die Erzählung nutzt, sondern ihn lediglich als Kulisse benutzt. In der ers-ten Sektion mit dem Titel „Une forteresse à bout de souffle“ empfangen zwei Porträts König-Großherzogs Wilhelm III., einmal in Öl und einmal als Lithographie, den Besucher. Es folgen eine Büste Prinz Heinrichs, seines Bruders und Stellvertreters, und ein koloriertes Gusseisen mit dem Doppeladler des Deutschen Bundes. Die Information, dass dieses Gusseisen über dem Neutor hing und beim Abzug von der deutschen Garnison vergessen wurde, bleibt dem Besucher vorenthalten. Sie ist lediglich im Begleitbuch der Ausstellung zu finden. Dann wird die Abdankung Herzog Adolfs von Nassau-Weilburg infolge der Niederlage von 1866 thematisiert, bevor etliche Postkarten mit Porträts von Offizieren aus der Bundesfestung von 1866 folgen. Schließlich soll ein Kondolenzschreiben die Choleraepidemie von 1866 in Erinnerung rufen. Die Beziehung all dieser Exponate mit dem Sektionsthema leuchtet dem Ausstellungskritiker nicht sofort ein.

Eine zusammenhängende Story bieten zwei Filme, die in der Schau präsentiert werden: eine RTL-Reportage über die Unabhängigkeitsfeier von 1989 in Form eines historischen Umzugs in der Gemeinde Walferdingen, in der Prinz Heinrich und Prinzessin Amalia bekanntlich im Schloss residierten, und ein eigens für die Ausstellung gedrehtes fiktives Interview mit Prinz Heinrich über die Ereignisse von 1867. Dieses Gespräch gibt im Wesentlichen die Interpretation wieder, die der Teilnehmer an den Londoner Verhandlungen Emmanuel Servais in seinem 1875 erschienenen Buch Le Grand-Duché de Luxembourg et le Traité de Londres du 11 mai 1867 geliefert hat und die dem genannten Prinzen bzw. seinem königlichen Bruder die Rolle eines Retters der Unabhängigkeit Luxemburgs zuschreibt. Neuere Forschungsansätze, die der entscheidenden Rolle Russlands nachgehen, werden weder im Film noch in der Ausstellung berücksichtigt.

Der Untertitel der Ausstellung „Luxembourg – ville ouverte“ kommt wenig zum Tragen. Wohl werden in der Ausstellung etliche Bilder von den Abrissarbeiten an einzelnen Festungsteilen gezeigt. Ergänzt werden sie durch zahlreiche Pläne, die sich Laien ohne Anweisung aber nur schwer erschließen. Auch andere Dokumente, wie Kostenvoranschläge, Abrechnungen oder Verhandlungsunterlagen zur Neubestimmung der Militärbrachen zwischen Stadt und Staat werden textlich und gestalterisch kaum kontextualisiert. Die Objektbeschriftungen liefern nur einen Titel (z.B.: „Autonomie allégorique“), Informationen zur „Art“ der Dokumentation (etwa: Brief von X an Y), zum Autor, zum Datum der Erstellung und zum Archivfonds. Auch die fünf kurzen Sektionstexte bleiben oberflächlich. Gerade der Aspekt der Wirkung des Londoner Vertrags hätte durch eine erstmals umfassende Dokumentation über die Schleifung der Festungsbauten für ein breites Publikum verständlich aufbereitet werden können und müssen: Welche Festungsteile wurden wann abgerissen? Warum in dieser Reihenfolge? Was hat das gekostet? Wer hat daran verdient? (Das Begleitbuch listet die Namen der beteiligten Unternehmer auf.) Welche Festungswerke wurden ausgespart? (Die Ausstellung zeigt zwei Fotografien vom Bock, die eigens angefertigt wurden, um die Erinnerung an die dortige Bastion zu erhalten.)

Und wie wurden die so verfügbaren Militärbrachen umgenutzt? Wer waren die Entscheidungsträger: Stadt oder/und Staat? Auf diese Fragen gibt die Ausstellung nur punktuelle Antworten: Besucher, die sich nicht mit den Objektbeschriftungen begnügen, sondern sich die Mühe machen, die Dokumente zu entziffern (sofern sie schriftlich und sprachlich dazu fähig sind), erfahren, dass der Staat 1868 der Stadtverwaltung etliche Gebäude kostenlos übertrug, unter der Bedingung, dass sie einem öffentlichen Nutzen zugeführt würden, was aber nicht verhinderte, dass 1875 ein Gesetz den Streit zwischen beiden Partnern schlichten musste. Ob der Besuchende aus den Zeichnungen der Arsenalkaserne herausliest, dass dort die städtische Musikschule und eine Handschuhfabrik untergebracht wurden, darf bezweifelt werden, ist aber im Katalog nachzulesen. Dasselbe gilt für die Nudelfabrik Hastert, die auf dem Cavalier Jost gebaut wurde und die über ein Werbeblatt präsent ist. Eine systematische Untersuchung der Umnutzung der Militärbrachen wäre auch auf internationaler Ebene auf große Resonanz gestoßen, da sie ein echtes Forschungsdesiderat ist. Das hätte allerdings eine längerfristige Vorbereitung verlangt.

Angesichts des Ausstellungsthemas der offenen Stadt ist es positiv zu bewerten, dass eine Abteilung den Abrisstechniken unter der Frage „Pic ou poudre?“nachgehen will. Eine Antwort darauf werden Besucher aber auch nach der Lektüre von einem guten halben Dutzend ausgestellten Textquellen nicht finden. Im Katalog erfährt der Leser, welche Schwierigkeiten die Regierung hatte, um sich Pulver zu besorgen, obschon die abziehende Garnison volle Pulvermagazine hinterließ, und dass es Proteste gegen Sprengungen gab. Eine wirkliche Antwort auf die gestellte Frage findet er auch dort nicht.

„1867 – Luxembourg ville ouverte“ beschränkt sich auf die Jahre 1867-70. Der Kritiker vermisst den Ausblick auf die in den Folgejahren erfolgte Schleifung, durch die Luxemburg zur offenen Stadt wird. Ansatzweise erhält der Besucher einen Eindruck von dieser Öffnung durch das mehrere Meter breite Panorama der Stadt Luxemburg und Umgebung, das mit Hilfe von vier vergrößerten Postkarten von Mathias Erasmy erstellt wurde und dem dieselben vier Ansichten von heute beigefügt wurden. Auf den Lithographien von 1868 sind die Forts rund um die Stadt Luxemburg allerdings kaum zu erkennen und die Stadt wirkt fast so offen wie 2017.

Eine These zu den mittel- bis langfristigen Folgen, die die Öffnung für die Stadt und das Land hatte, präsentierte Premierminister Xavier Bettel in seiner Ansprache zum Nationalfeiertag am 22. Juni 2017: „Mam Opmaache vun der Festung gouf e Prozess ugefaangen, deen eis bis haut begleet. D’Land ass opgaange fir Handel an Austausch, mir ware vun 1867 un net méi isoléiert, mee exponéiert, a Lëtzebuerg huet sech zu engem wichtegen Zentrum an der haiteger Groussregioun entwéckelt.“ Diese Behauptung, die in der Luxemburger Geschichtsschreibung fast schon den Charakter eines Erinnerungs-
ortes hat, hätte es verdient, am Ende der Ausstellung zur Diskussion gestellt zu werden. Die Entwicklung der letzten 150 Jahre wird in der Ausstellung kaum thematisiert. Dafür muss man auf das Stadtmodell von 1867 in der neuen Dauerausstellung im Stadtmuseum verweisen, das sehr anschaulich mit Hilfe von Lichteffekten die urbane Erweiterung der Stadt darstellt (vgl. forum Nr. 374).

Fazit: Die Ausstellung „1867 – Luxembourg ville ouverte“ bietet in der Art eines Schaudepots eine bemerkenswerte Materialschau, die des Französischen mächtige, geschichtskundige Besucher beglücken wird. Einem lokalen und internationalen Publikum, das sich weniger in der Luxemburger Geschichte auskennt, sei geraten, auf eine der regelmäßigen Führungen zurückzugreifen, um seine Neugierde zu befriedigen. Das zum Preis von 25 € erhältliche Begleitbuch erzählt zu vielen Exponaten interessante Geschichten, liefert allerdings auch keine historische Gesamtinterpretation.

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