„Darüber müssen jetzt andere entscheiden.“

Interview mit dem ehemaligen Generalvikar der katholischen Kirche Erny Gillen über Grenzen des Change Managements und Dossiers, die er in Luxemburg zurücklässt

Sehr geehrter Herr Gillen, in wenigen Wochen beginnen die Klimaverhandlungen in Paris. Welche Bedeutung hat das Thema für die Kirche?

Erny Gillen: Die Kirche ist sich der Klimaproblematik und den damit zusammenhängenden Gerechtigkeitsfragen seit sehr langer Zeit bewusst. Seit über 20 Jahren wird das Thema von Justitia et Pax wie auch von der Caritas behandelt. Der Papst hat erst kürzlich mit seinem Rundschreiben Laudato si noch einmal deutlich gemacht, dass die politischen Antworten ohne eine moralische Unterfütterung nur in technokratischen Scheinlösungen enden, die sich gegenseitig ausspielen, aber nicht an die Wurzel des Problems gehen. Der Papst hat sehr deutlich gemacht, dass die Leittragenden der Klimaveränderungen — wie immer möchte man sagen — die Armen sind. In Bangladesch sind es die Armen, die mit den Füßen im Wasser stehen …

Für den Papst besteht das Grundproblem also in den wirtschaftlichen Zusammenhängen?

E.G.: Es geht um die Zielfrage des Menschen. Solange wir uns bewusst sind, dass die Wirtschaft im Dienste des Menschen, des Allgemeinwohls steht, habe ich mit der Wirtschaft kein Problem. Dann gibt die Wirtschaft nicht die Ziele vor, sondern stellt die Mittel zur Verfügung, um andere politische Ziele zu verfolgen. Heute hat man jedoch den Eindruck, dass das Diktat der Wirtschaft auch die Politik selber in Beschlag nimmt und dass die Politik zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft wird.

Was macht die Kirche konkret im Hinblick auf die Klima-Verhandlungen in Paris? Was ist ihre Rolle und welche Mittel hat sie?

E.G.: Die Kirche hat Beobachterstatut sowohl bei der UN wie auch bei anderen internationalen Orga- nisationen. Sie nutzt diese Position, um die Stimme der gesamten Kirche in diesen Foren deutlich zu machen. Wenn ich sage „die Stimme der gesamten Kirche“, dann meint der Papst damit die Stimme der Armen. Er selber versteht sich als ein Sprachrohr der Armen und Unterdrückten, und er möchte, dass ihre Stimme bei den UN-Foren und Verhandlungen zum Ausdruck kommt. Wenn es eine Legitimation für Demokratie gibt, dann sind es die Armen! Jede Lösung, die man versucht zu erarbeiten, ist immer nur eine Lösung auf Zeit — es gibt keine Lösung für die Ewigkeit. Alles was wir heute als Lösung ent- wickeln, werden wir morgen als Problem zu bewältigen haben. Etwa den CO2-Handel: Der Papst ist dagegen, die EU meint es wäre ein Lösungsansatz. Doch man sollte sich bewusst sein, dass man das Problem nur verschiebt, man löst es nicht. Wir würden das Klimaproblem stattdessen einer Lösung zu- führen, wenn wir unsere Lebensstile ändern würden.

Die Kirche versucht dies in Luxemburg etwa über Initiativen wie Autofasten. Es handelt sich dabei um eine Einladung an den Einzelnen zu entscheiden, ob er in sein Auto steigt oder auf Bus oder Fahrrad umsteigt. Solche Initiativen funktionieren natürlich nur auf einem sehr sanften Niveau. Wenn es in der Bevölkerung keinen Widerhall gibt, dann kann man natürlich versuchen, durch Rechtsmittel die Leute zum Handeln zu zwingen. Doch dann werden sie sich hauptsächlich darum bemühen, die Zwänge zu umgehen.

Eine starke Resonanz gab es vor sechs Jahren auf eine Initiative, die die Caritas zusammen mit Greenpeace und der ASTM im Vorfeld der Klimakonferenz von Kopenhagen gestartet hatte. Im Rahmen dieser „180 Grad“ genannten Aktion war eine Gruppe von 20 repräsentativ ausgewählten Personen während eines Jahres mit dem Thema Klimawandel konfrontiert worden und hatte in diesem Rahmen sogar Reisen nach Grönland und Bangladesch unternommen. Die Begeisterung war so groß, dass die Leute am Ende das Projekt gerne weitergeführt hätten. Aus formalen, institutionellen Gründen haben Sie darauf gedrängt, dass der Name und damit auch die Identität der Gruppe nicht weitergeführt wird. Die Gruppe hat das als mangelndes Vertrauen empfunden und ist auseinandergefallen.

E.G.: Ich bedauere, dass das damals so gelaufen ist. Die Grundidee war ja gerade gewesen, dass die Leute selber Verantwortung übernehmen und sich aus dem Schoß der Institutionen bewegen sollten. Als Ethiker geht es mir darum, Moral in konkrete Strukturen zu übersetzen, in denen wiederum jeder Verantwortung übernehmen kann.

Im April dieses Jahres haben Sie ein Buch publiziert, das sich als offener Brief an Papst Franziskus gibt. Darin sagen Sie, die katholische Kirche solle aufhören, Staat zu spielen. Daneben brechen Sie als Moraltheologe eine Lanze für die Vernunft als Basis für Moral. Auch der Glaube müsse sich in der Frage der Moral von der Vernunft leiten lassen. Gerade in der Sexualmoral erwarten Sie sich vom Papst eine grundlegende Neuausrichtung der Lehrmeinung. Zum Schluss wenden Sie sich gegen den Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche: nicht EINE Wahrheit zähle, sondern die volle Wahrheit. Wer ist der Adressat dieses Briefes?

E.G.: Der Brief ist gewissermaßen Teil eines „Spieles“ im positiven Sinnes des Wortes, das der Papst eröffnet hatte am 22.12.2014, als er seine 15 Kurienkrankheiten vor der ganzen Welt diagnostiziert hat. Er hat einen Ball in das offene Feld gespielt und ich habe das als eine Art Hilferuf oder besser als eine offene Einladung des Papstes aufgefasst. Ich habe den Ball aufgegriffen und ihn in Form eines offenen Briefes zurückgespielt.

Die Grunddiagnose des Papstes heißt Schizophrenie, d. h. schizophrene Strukturen in der Kirche, die zu schizophrenem Verhalten der Menschen führen. Der Kirchenstaat ist eine gespaltene Struktur, denn der Papst wird in Straßburg als Staatschef empfangen, aber wir sehen gleichzeitig in ihm einen religiösen Führer, ähnlich übrigens wie heute auch beim Dalai Lama und morgen möglicherweise bei einem Führer des Islamischen Staates. Ich denke, dass eine Trennung von Vatikanstaat und Kirche eine sinnvolle Möglichkeit ist, aus dieser Schizophrenie herauszukommen.

Erst wenn man diese Trennung erreicht, wird es möglich sein, gemeinsam mit den Mitteln der Vernunft, nicht mit religiösen Symbolen, in ein rationales Gespräch über die Zukunft der Welt zu kommen. Dann könnte der Papst vom Vatikan in den Lateran ziehen, wo sein Bischofsstuhl sowieso steht. Ich bin nicht gegen eine zentrale Verwaltungsstruktur der katholischen Kirche. Nur denke ich, dass so eine universale Organisation wie die katholische Kirche es sich durchaus leisten könnte, weltweit mehrere Headquarters zu haben. Es geht darum, heutige Strukturen zu verflüssigen und eine spannende Balance zu finden zwischen Strukturen, in denen die Moral noch am Leben ist. Die vom Papst neu belebte Bischofssynode ist ein hervorragendes Mittel ernst mit der Kollegialität innerhalb der Kirche zu machen.

Ein offener Brief hat ja auch eine Öffentlichkeit im Hinterkopf. Um welche Öffentlichkeit handelt es sich hier?

E.G.: Die Öffentlichkeit ist durchaus die katholische Öffentlichkeit. Man hat den Eindruck, dass der Papst alleine gelassen wird mit dieser Kurienreform von seinen eigenen Gläubigen, die aber die Kurie als Anlass nehmen, um selber Kritik an der Kirche zu üben. Da wäre es halt spannend zu hören, ob die Gläubigen bereit sind, den Preis einer höheren Freiheit zu zahlen? Das wird sich jetzt noch einmal bei der Synode über die Familie zeigen, wenn der Papst z.B. die Bischöfe einlädt, lokale Lösungen für Probleme vorzuschlagen. Es ist einfacher zu sagen, der Papst möge entscheiden, oder die Leute in Brüssel oder New York …

Mit diesem offenen Brief sage ich, dass jeder sich einbringen kann. Jeder der so ähnlich denkt, soll dem Papst schreiben, entweder öffentlich oder direkt — um zu zeigen: Diese Kurienreform ist nötig und sie ist möglich, aber nur mit vereinten Kräften. Was wir brauchen ist das Volk Gottes, die lebendige Kirche, die pilgert, mit den Menschen, ohne Unterschied.

Sie bewundern den Papst, wie Sie schreiben, dafür, dass er „seine Karten auf den Tisch legt“. Mit diesem Brief bringen Sie sich in gewisser Weise selber in Stellung?

E.G.: Das würde ich nicht so sagen. Mit dem Schreiben ist kein Anspruch verbunden, außer ein moralischer Anspruch, eine intellektuelle Herausforderung. Der Text ist nicht, wie einzelne böse Zungen behauptet haben, ein langes Bewerbungsschreiben (lacht). Aber ich bewundere den Papst trotzdem, um auf die Frage noch zu antworten …

Im Rahmen der Verhandlungen, die Sie mit der Regierung über die Trennung von Kirche und Staat geführt haben, konnte man das Gefühl gewinnen, dass Sie das Kirchenkonzept von Papst Benedikt teilen, der Kirche als eine kleine, geschlossene Gemeinschaft sieht, die sich von allem bloß Halben trennt. Wenn man Ihnen hier aber zuhört, spürt man eher, dass Sie sich bei Papst Franziskus zu Hause spüren, der die Kirche für die Gefallenen und Gestrandeten öffnen möchte und selbst gegenüber Geschiedenen und auch Traditionalisten öffnen möchte. Wie verbinden Sie diese beiden Standpunkte?

E.G.: Theologisch stehe ich Papst Franziskus sicher näher als Papst Benedikt, obwohl auf der anderen Seite die Inhalte, die die beiden vermitteln außerordentlich nah bei einander liegen. Es ist mehr eine Frage der Form als der Inhalte. Benedikt hat ja mit der Kurienreform begonnen. Auch weil er keine andere Wahl hatte, aufgrund der vielen Skandale um Pädophilie und um die Vatikanbank stand er mit dem Rücken zur Wand. Benedikt hatte in Freiburg von der Entweltlichung der Kirche gesprochen, und diese Entweltlichung der Kirche, wenn man es nicht zu radikal versteht, ist durchaus etwas Sinnvolles. Wir schleppen in unserem Sein als katholische Kirche ja sehr viele Relikte mit uns herum aus den vielen, in der Vergangenheit erworbenen weltlichen Rechten. Diese Relikte bringen uns nicht an die Seite derer, derentwegen es uns gibt. Jesus würde ja nicht in den Vatikan gehen, wenn er nach Rom käme — vielleicht mittlerweile schon, seitdem es dort einen Frisör oder Duschen für Obdachlose gibt — aber sicherlich nicht in den päpstlichen Palast.

Jetzt haben wir einen Papst in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils und trotzdem sind Sie schon nach dreieinhalb Jahren als Generalvikar der luxemburgischen Kirche zurückgetreten. Eine erstaunliche Entscheidung.

E.G.: Bevor ich das Amt des Generalvikars angenommen habe, hatte ich mit dem Bischof lange und gründlich darüber diskutiert. Wir wussten beide, dass in der katholischen Kirche in Luxemburg Change Management notwendig war, und ich glaube, dass ich über die nötigen Instrumente verfüge, um Veränderungen zu begleiten. Dann ist vieles passiert: Wir haben die Bilanzen der Kirche an die Öffentlichkeit gebracht und uns auch selber erstmals vor Augen geführt, in welch schwieriger materieller Situation sich die Kirche befindet. Im Luxemburger Wort wurden Änderungen eingeleitet, die sich nicht nur im Wechsel von einem Generaldirektor und einem Chefredakteur ausdrücken. Mit der Bilanz von 2014 wurde der wirtschaftliche Turnaround erreicht. Die Zahlen sind jetzt positiv und die ökonomische Handlungsfähigkeit ist wieder gegeben. Schließlich, die Staatsverträge waren ausgehandelt und neue Verantwortungsträger auf allen Ebenen berufen. Der Bischof hat ein handlungsfähiges Team, er hat ökonomisch transparente Zahlen, mit denen er umgehen kann. Mit dem Staat sind Vertragselemente fixiert, die Möglichkeiten für die Zukunft aufzeigen, das Luxemburger Wort steht wieder auf gesunden Füßen. Vor diesem Hintergrund habe ich gedacht, dass der 26. Januar der ideale Termin wäre, um meinen Rücktritt bekannt zu geben. Nach ein paar Diskussionen haben wir dann entschieden, dass Aschermittwoch ein guter Tag wäre.

Hat das Beispiel von Papst Benedikt Ihnen gezeigt, dass Rücktritt eine Option ist?

E.G.: Durchaus. Den Auftrag, den ich hatte, habe ich erfüllt, und nun gehe ich wieder in meinen alten Beruf des praktischen Ethikers zurück. Change Management erfordert spezielle Fähigkeiten. Dabei verletzt man ja auch Personen. Insgesamt wurden in den dreieinhalb Jahren 120 Stellen abgebaut — sozialverträglich, aber trotzdem. Derjenige, der betroffen ist, der kauft sich für diese Sozialverträglichkeit auch nichts. In diesem Zusammenhang hatte ich ein bezeichnendes Erlebnis, als ich einen Kollegen vertreten sollte. Als ich in der Kirche auftauchte und nicht der zuständige Pfarrer, sind zwei Familien aus der Kirche mehr oder weniger laut murmelnd raus gegangen, um mir mit dem durchaus verständlichen Gemurmel mitzuteilen: Jetzt kommt dieser Gillen, der meinen Mann, meine Frau, meinen Onkel entlassen hat und wird uns da von Nächstenliebe erzählen … Change Mangement kann in einer Organisation nur während einer beschränkten Zeit durchgeführt werden, auch in der Wirtschaft. Man holt jemanden, den man in der Regel hoch bezahlt, um die unangenehmen Dinge zu tun, und danach kann ein anderes System von Management kommen. Wenn man mir etwas vorhalten würde, jetzt managementtheoretisch gesprochen, dann dass der Prozess zu lange gedauert hat. So eine Operation müsste in zwei Jahren abgeschlossen sein und nicht dreieinhalb Jahre andauern. Aber dann sind ja auch noch die politischen Verhandlungen unerwartet hinzugekommen.

Tatsächlich stellen sich in zwei Hauptpunkten des Abkommens mit der Regierung große Hindernisse: Bei der Einführung des gemeinsamen Werteunterrichts gibt es große Widerstände der Basis — sowohl von Seiten katholischer Eltern wie auch vieler Religionslehrer. Und auch in den Kirchenfabriken scheint es nicht so zu sein, als ob die Lokalnotablen, die hier ihr privates Spielfeld haben, alle klein beigeben würden. Wie sehen Sie die Situation in diesen beiden Konflikten?

E.G.: Es ist schade, dass unsere Vorschläge, die Wahl zwischen zwei neu zu konzipierenden Fächern und zuletzt eines Religionenunterrichts (neben dem Ethikunterricht), den die katholische Kirche zusammen mit den anderen Religionsgemeinschaften auf den Tisch gelegt hatte, nicht zurückbehalten wurden.

Dieser Vorschlag war doch schon vor Weihnachten vom Tisch. Im Abkommen haben wir eine ganz andere Situation.

E.G.: Wir haben uns realpolitisch darauf eingelassen, dass die Religionen in diesen neuen, erst zu konzipierenden Kurs integriert werden und der Religionsrat neben anderen eine Mitsprache haben soll. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man unter den Bedingungen, die jetzt geschaffen wurden, einen sinnvollen Werteunterricht entwickelt, der der praktischen Philosophie verpflichtet ist und in dem auch Religionen als Quellen authentisch zur Sprache kommen. In dem aber auch humanistische Traditionen, oder atheistische, marxistische Traditionen deutlich gemacht werden, so dass die SchülerInnen in die Lage versetzt werden, Wertehorizonte zu erkennen und selbstverantwortlich innerhalb dieser Horizonte handeln können — wissend, dass man selber immer gebunden ist. Wittgenstein hat darauf hingewiesen, dass jede Tür an irgendeiner Angel dreht, d.h. dass es keinen Standpunkt außerhalb aller Standpunkte gibt. Da Ethik und Religion in zwei — wenn auch verbundenen — Angeln hängen, wären auch zwei obligatorische Einführungen in die beiden Fächer eine vertretbare Lösung. Aber darüber müssen jetzt andere entscheiden.

Müssten Sie dann nicht gerade jetzt bei Ihrer Basis Werbung machen für das Konzept dieses Unterrichts? Wenn nur die Regierung dafür kämpft und Sie als Mitunterzeichner sich raushalten, riskiert der Plan an Ihrer Basis zu scheitern.

E.G.: Ich glaube, dass die katholische Kirche ebenso wie die anderen Religionsgemeinschaften weiter ge- fordert ist, ihre Arbeit zu leisten.

Im Hinblick auf die geplante Auflösung der Kirchen- fabriken sieht es noch schlimmer aus. Da bahnt sich juristisches Chaos an.

E.G.: Ja und Nein. Es ging um die Frage, was mit dem Kirchenvermögen geschieht, und da gibt es keine unendlich vielen Möglichkeiten. Entweder gehört dieses Kirchenvermögen der Kirche oder dieses Kirchenvermögen wird den Kommunen oder dem Staat übertragen. Das ist die Alternative. Wenn man jetzt aus 285 Kirchenfabriken eine neue große Kirchenfabrik machen möchte, dann bleibt auf jeden Fall das Kirchenvermögen auf der Seite der Kirche.

Dann bleibt nur noch die Frage: Wie organisiert man diese neue Kirchenfabrik, die wir Fonds nennen? In diesem Zusammenhang hat der Bischof schriftlich und hundertmal mündlich versichert, dass er diese neue Kirchenfabrik spiegelbildlich zu den neuen Pfarreien organisieren wird. Also nicht eine zentralistische Organisation, sondern eine dezentrale Organisation. Es kann sein, dass dieser Weg den Lokalfürsten von früher nicht immer gefällt, dass sie meinen, sie wären die Eigentümer und nicht die Verwalter von Kirchengut, aber der Bischof ist nach Kirchenrecht der oberste Kirchenverwalter, er delegiert diese Verantwortung. Manchmal habe ich den Eindruck, dass einigen Kirchenfabriken Napoleon heiliger ist als Franziskus oder Dominikus oder Ignatius von Loyola …

Die Geheimverhandlungen zwischen Kirchenführung und dem Staat haben auf den Beobachter ein wenig wie ein Putsch von oben gewirkt, der Ihre Basis überrascht hat. Mittlerweile sieht es teilweise so aus, als ob die Basis putscht. Geht Ihre Strategie auf und haben Sie nicht doch zu früh Ihren Abschied genommen?

E.G.: Ich war eher überrascht, dass die Strategie aufging und die drei Verträge zwischen der Regierung und der katholischen Kirche bzw. den Religionsgemeinschaften innerhalb von zwei Tagen grundsätzlich vom Parlament gutgeheißen wurden und die Regierung in ihrem Vorgehen prinzipiell bestätigt wurde — und in Sachen Verfassungsrecht sogar auch von der CSV, ohne die keine grundsätzliche Einigung möglich gewesen wäre. Insofern ist es für mich ein Erfolg, dass diese Verträge in solch kurzer Zeit überhaupt zu Stande kamen. Die Verhandlungen wurden am 15. Juli 2014 eröffnet und am 26. Januar 2015 wurde unterschrieben. Ein Erfolg war auch, dass wir nicht nur als katholische Kirche unterschrieben haben, sondern zusammen mit den Mitgliedern des Rates der Religionsgemeinschaften, der ja auch der zukünftige Verhandlungspartner gegenüber dem Staat sein wird. So wurde nicht eine causa catholica verhandelt, sondern wirklich die Frage von Religion überhaupt und insbesondere von Religionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft.

Die Regierung war angetreten mit einer Null- Lösung und in keiner der Fragen ist es schließlich zu einer Null-Lösung gekommen. Die neu ausgehandelten Verhältnisse müssen natürlich jetzt mit Leben gefüllt werden — nicht von einer Seite, sondern von beiden Seiten, bzw. von allen sieben Partnern und das ist richtige Arbeit! Und auch hier denke ich, dass es besser ist, wenn neue Leute die Umsetzung übernehmen, sonst wird man immer wieder auf die Gründe zurückgeführt, weswegen die Dinge so sind, wie sie sind, und man nimmt den Schritt nicht an, der gemacht wurde.

Noch ein Wort zu dem, was Sie Geheimverhandlungen nennen: Es gab während der Verhandlungen in der katholischen Kirche etwas, das wir die „Assise de l’Église catholique“ nennen. Das ist eine Art Voll- versammlung der Gremien, die der Bischof befragen muss, wenn er wichtige Entscheidungen trifft, und sie setzt sich zusammen aus Domkapitel, Bischofsrat, Priesterrat und Pastoralrat. Diese Leute aus den beiden letztgenannten Gremien, die ja Vertreter der gesamten Kirche sind, sind gewählt. Es ist also nicht so, dass da nur zwei oder drei Leute nachgedacht und abgewogen haben. Ich glaube, von 32 Leuten haben sich 29 für die Unterzeichnung der Verträge unter den gegebenen Bedingungen ausgesprochen. Heute würde man vielleicht wieder anders entscheiden, aber am 19. Januar sah die Welt halt so aus, wie sie am 19. Januar ausgesehen hat. Und heute stellen sich die Fragen, die sich heute stellen.

Ich möchte trotzdem noch einmal nachhaken: Wenn Sie morgen ins Flugzeug steigen und an die beiden Dossiers Kirchenfabriken und Werteunterricht denken, fliegen Sie dann mit einem guten Gefühl?

E.G.: Ich fliege nicht unbedingt mit einem guten Gefühl. Das muss ich vor allem mir selber eingestehen. Ich bin aber gleichzeitig sehr froh, dass ich Distanz gewinnen kann. Ich bin tatsächlich nicht glücklich über die Art und Weise, wie die Verträge zur Zeit von bestimmten Seiten aufgenommen und gelebt werden. Es werden Nachgefechte geführt. Ich denke, dass es jetzt um die Zukunft, die immer offen vor uns liegt, geht. Die Verträge sind der heutige Ausgangspunkt für die nächsten Etappen. Sie bergen genug Potential, um neue lebensfähige und realitätsnahe Lösungen zu ermöglichen. Eine Arbeit ist gemacht. Die nächsten Arbeiten stehen bevor.

Zwischen dem 26. Januar und dem heutigen Tag liegt das Referendum vom 7. Juni. Was sagt das Referendum aus über die Offenheit der luxemburgischen Gesellschaft?

E.G.: Die Luxemburger Gesellschaft hat sich hier als eine selbstreferentielle Gesellschaft entpuppt, die immer noch im Irrglauben lebt, der Wohlstand, den wir erzeugen, wäre das Verdienst dieser Gesellschaft. Weil sich Wirtschaft und Politik entkoppelt haben, können wir uns vormachen, wir wären die Erzeuger des Reichtums, der uns umgibt, und jenseits der Grenze wären die Menschen weniger klug, sonst wären sie auch so reich und wohlhabend wie wir. Aber das ist ja ein unglaubliches Missverständnis!

Hat die Flüchtlingsfrage das Potenzial, die Menschen hier in Luxemburg zusammenzubringen?

E.G.: Das hängt davon ab, ob genug Flüchtlinge Luxemburg als Zielland wählen. Es hängt auch davon ab, wie die Kirche und die Religionsgemeinschaften sich verhalten. Für die Kirchenfabriken etwa, die Verwalter des kirchlichen Vermögens, ist es eine Chance, um auf die Aufforderung des Papstes zu reagieren, jeweils eine Familie aufzunehmen. Bei 274 Pfarreien wären das zum Beispiel Unterkünfte für 274 Familien. Die pastorale Initiative „Reech Deng Hand“ greift die Einladung von Papst Franziskus ja auf und lädt die Katholiken ein, ihre Herzen und Türen zu öffnen. Ich habe die Bilder vom Münchener oder Wiener Bahnhof gesehen und bin überzeugt, dass wenn jetzt 200 Menschen am Luxemburger Bahnhof ankämen, dann wären auch 200 Menschen aus Luxemburg am Bahnhof, um zu sagen „Komm ich nehme dich mit“.

In Luxemburg gibt es traditionell sehr starke soziale Träger in kirchlicher Hand, bei denen Geistliche, Ordensschwester oder hohe Kirchenvertreter die Verwaltungsräte weitgehend kontrolliert haben. Welche Zukunft sehen Sie für die Kirche in diesen sozialen Trägern, die sich langsam verweltlichen.

E.G.: Beim Zweiten Vatikanischen Konzil gab es den schönen Begriff von der Autonomie der irdischen Wirklichkeit. Die Krankenhausarbeit ist eine solche irdische Wirklichkeit. Dass die Kirche solche Initiativen ins Leben ruft, ist außerordentlich wichtig, dass sie dann jedoch weiter in kirchlicher Hand bleiben, ist überhaupt nicht wichtig. Es geht um die Sache selber im Sinne der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“, und es geht der Kirche um die Seelsorge innerhalb und ausserhalb dieser sozialen Einrichtungen. Das sind zwei Paar Schuhe.

Das heißt, die sozialen Träger müssen nicht unbedingt in der Hand der Kirche verbleiben. Was ist aber dann mit dem Immobilienbesitz, der oft damit verbunden ist?

E.G.: Zur Frage des Immobilieneigentums ist zu sagen, dass Eigentum laut katholischer Soziallehre verpflichtet. Der Verpflichtung zur Hilfe ist die katholische Kirche seit eh und je nachgekommen. Sie hat ihren Boden und ihre Ressourcen zur Verfügung gestellt, um Krankenhäuser, Hospize und andere soziale Einrichtungen aufzubauen. Heute wird diese Arbeit weitestgehend vom Staat gefördert. Würden der Staat oder die Träger das Eigentum, dort wo es z. B. Ordensgemeinschaften gehört, übernehmen, würde diesen ja Geld zufließen. Der betreffende Orden oder die Kirche müssten sich dann wiederum die Frage stellen, wie sie dieses Geld, das sie unter Umständen bekommen haben, wiederum in neue, noch nicht beantwortete Notsituationen einbringen können. Die soziale Bewegung soll erhalten bleiben und nicht die einmal aufgebauten Strukturen. Not verändert sich ständig und deshalb müssen sich auch die Antworten immer wieder anpassen.

Bei ihrem Rückzug aus Luxemburg haben Sie einen Posten behalten. Sie sind Verwaltungsratspräsident des Luxemburger Wort geblieben. Warum das Festhalten gerade an dieser Aufgabe?

E.G.: Der Bischof hat mich gebeten, diese Aufgabe vorübergehend weiterzuführen, bis wir uns im Verwaltungsrat neu aufgestellt haben. Auf jeden Fall denke ich, hat das Luxemburger Wort in der Geschichte des Landes, sowohl in der Kirchen-, Staats- und Gesellschaftsgeschichte eine sehr vielfältige Rolle gespielt und die sollte es auch in Zukunft weiterspielen. Es ist wichtig, dass ein starkes Medienhaus da ist, das unabhängig sein kann und gleichzeitig Werte vertritt, die es als Angebot im Sinne einer „force de proposition“ in die Gesellschaft hineinträgt.

Welche Vision haben Sie für das Luxemburger Wort?

E.G.: Ich habe ganz zu Beginn meiner Amtszeit als Generalvikar einen einfachen Dreier-Satz geprägt, der geheißen hat: „Bistum ist Bistum, Wort ist Wort, CSV ist CSV“. Jeder muss seine Verantwortung übernehmen, und das LW vertritt jetzt nicht nur monolithische Perspektiven, sondern bringt als Zeitung für ganz Luxemburg andere Meinungen zur Geltung, auch wenn dies bei einigen Lesern nur schwer ankommt. Das Ziel bleibt, in dieser schwierigen soziologischen und ökonomischen Situation überhaupt ein Medium zu haben, das einen professionellen Journalismus bietet, innovativ ist und nach allen Seiten, inklusive Kirche, Herausforderungen mindestens aufzeigen kann.

Was ist Ihr strategisches Ziel im Hinblick auf das Wort? Schwarze Zahlen?

E.G.: Nein, wir wollen das beste Medium in Luxemburg sein! Neben forum natürlich (lacht).

Mit ihrer Entscheidung, übergangsmäßig Präsident des Verwaltungsrates zu bleiben, signalisieren Sie der CSV, dass Sie mit Ihnen rechnen muss, auch für die kommenden Wahlen. In der Sommerserie „Auf ein Wort“ wurden insbesondere CSV-Politiker mit der Frage gequält, ob sie eher für Frau Reding oder für Herrn Wiseler als CSV-Spitzenkandidat für die nächsten Wahlen seien. Wie antworten Sie auf diese Frage: Reding oder Wiseler?

E.G.: Ich glaube, ich lasse die Frage besser offen.

Welches ist Ihre Wunschkoalition für 2018?

E.G.: Mein Wunsch ist es, dass wir in einer breiten demokratischen Vertretung des Wählerwillens bleiben und nicht in eine einheitliche Situation hineingeraten, denn diese Gefahr besteht zur Zeit ganz eindeutig. Ich frage mich manchmal, ob wir hier in Luxemburg nicht den Mut haben sollten, jede Partei, die gewählt ist, in dem Proporz, in der sie gewählt wurde, an der Regierung zu beteiligen, wie die Schweizer das machen. Ich habe eine Vorliebe für die Schweiz, das gebe ich gerne zu, nicht nur für die Berge, sondern auch für das System.

Sie fliegen morgen nach Boston und haben erklärt, dass Sie sich Zeit für sich selber nehmen möchten. Was heißt das?

E.G.: Mir geht es darum, mich wieder stärker mit inhaltlichen, ethischen Fragen zu beschäftigen und mich für neue, andere Aufgaben zu öffnen. Management, das habe ich jetzt 30 Jahre lang gemacht, und Management ist sicherlich auch strategisches Denken, es ist taktisches Denken und es ist wirtschaftliches Denken. Aber jetzt möchte ich mich wieder auf meine ursprüngliche Berufung zurückziehen und mich fragen, wer bin ich für mich und wer bin ich für die Anderen? Wer bin ich vor Gott? In Boston werde ich mich zum Beispiel mit personalized medicine beschäftigen. Unter Umständen stehen wir wieder vor einer medizinischen Revolution. Angesichts der Medikamente der 4. und 5. Generation, die jetzt entwickelt werden, stellen sich Zielfragen und Gerechtigkeitsfragen, die einen Bio-Ethiker wie mich beschäftigen können. Und schließlich: Wer nicht in die Ruhe kommt, kommt auch nicht in die Aktion. Hannah Arendt hat von der Vita activa geschrieben, aber sie war ja auch eine kontemplative Frau. Also, man braucht den Ausgleich zwischen Kontemplation und Aktion.

Vielen Dank Herr Gillen für das Gespräch!

Das Interview fand am 9. September 2015 statt (KN/JST).

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