Das luxemburgische Schulsystem im Spiegel zunehmender Internationalisierung
Das nationale versus das internationale Schulsystem
Schulen sind wie Sozialversicherungen nationale Systeme, die sich innerhalb eines Nationalstaates entwickeln. Sie gehören zu den Angeboten, die der Staat seinen Bürgern zur Verfügung stellt und als Gegenleistung von ihnen Loyalität erwartet. Schulsysteme haben je Nationalstaat spezifische Charakteristika wie z.B. in Luxemburg die Dreisprachigkeit, ein Geschichts-Curriculum, das die Geschichte aus nationalstaatlicher Perspektive den Schülern nahebringt. Öffentliche Schulen für alle Kinder existieren seit fast 150 Jahren und stellen ein Bild des Selbstverständnisses eines Staates dar. Auch handelt es sich weniger um ein Angebot als vielmehr um eine Pflicht junger Eltern, ihr Sprösslinge dieser Struktur ab einem bestimmten Alter anzuvertrauen. Hier werden Haltungen nationaler Identität entwickelt. Die entsprechenden Zugangsbedingungen sowie Curricula, Ausstattungen und pädagogische Methoden verändern sich permanent, ein historischer Prozess, der innerhalb des Nationalstaates stattfindet und bisher einer direkten Form von Europäisierung entging1, selbst wenn heute mehr denn je Entwicklungen in anderen Ländern wahr- und aufgenommen werden.
Doch diese nationale Schule stößt an ihre Grenzen in einer mittlerweile mehr und mehr globalisierten Welt: Internationale Paradigmen greifen in die Schule ein, und sei es nur auf der Ebene internationaler Vergleiche wie die der PISA-Studie. Man erinnere sich an die Reaktion auf die erste Studie 2001 in Luxemburg, die – damals völlig neu – die bisher als exzellent betrachtete luxemburgische Schule aus dem Gleis warf. Bis dahin gab es keine wirklich ernsthafte In-Frage-Stellung der jakobinisch geprägten einzigen öffentlich-nationalen Schule, welche dem französischen “modèle républicain” entsprechend alle Kinder aufnehmen und erziehen soll, seien es luxemburgische, portugiesische, arme, reiche Schüler, Schüler aus städtischem oder ländlichem Umfeld. Dass es neben der öffentlich-nationalen Schule auch noch privat-nationale Schulen gibt (Ste. Sophie, Fieldgen etc.), widerspricht nicht fundamental dem jakobinischen Prinzip, da diese Schulen dem nationalen Curriculum mit seinen Abschlussprüfungen folgen, also nur beschränkt aus dem System ausbrechen.
Zaghaft haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein paar Alternativen entwickelt, die bis 2004 komplett getrennt vom nationalen System ohne jegliche Finanzierung seitens der öffentlichen Hand ko-existierten: Die erste Europaschule wurde im Rahmen der Montanunion 1953 in Luxemburg gegründet. Es folgte die “International School” 1963, eine Initiative der Unternehmer, das französische Lycéé Vauban 1986, die britische Schule 1987 und die Waldorf-Schule 1984. Während die zuerst genannten Schulen alle einem national-ausländischen oder europäisch-internationalen Modell folgen, benutzt Waldorf ein dezidiert alternatives pädagogisches Konzept mit einer impliziten Kritik an der wenig Kinder-orientierten Konzeption der öffentlich-nationalen Schule. Diese privat-internationalen Schulen waren, was ihr pädagogisches Programm anging, in der öffentlichen Debatte nicht wirklich präsent. Sie hatten ihren Preis (Schulgeld war zu entrichten), setzten Bedingungen für die Zulassung und waren von daher nicht für jedermann zugänglich. Erst seit dem Jahre 2000 gab es dann Überlegungen seitens der Regierung, den immer zahlreicheren Zugewanderten, aber auch den eigenen Bürgern zu 100% öffentlich finanzierte Alternativen anzubieten:
- Drei öffentliche Schulen bieten seit 2002 (Gesetz vom 14. Mai) ein „international baccalaureate“ (IB) in französischer oder englischer Sprache an.
- 2003 (Gesetz vom 13. Juni) beschloss man eine Zusatzfinanzierung der privat-internationalen Schulen von 40%. Für die Schulen, die das IB anbieten, sind die Zuschüsse mittlerweile erhöht worden.
- eine bi-nationale, luxemburgisch-deutsche Schule entstand 2007 in Perl (Lycée de Schengen).
- Seit 2011 gibt es ein “International General Certificate of Secondary Education”, einen Schulabschluss, der den Zugang zur Lehre ermöglicht, ein langjähriges desideratum für Eltern, deren Kinder in Richtung „Berufsausbildung“ gehen wollen.
- Seit 2016 (Gesetz vom 26. Februar) entstehen öffentliche Europaschulen (Differdingen mit einem zweiten Standort in Esch/Alzette; Mondorf, Clervaux, Junglinster), die nach dem pädagogischen Modell der klassischen Europaschule funktionieren: Lehrer sind Muttersprachler; der Unterricht wird nur in der Fremdsprache gehalten und es wird nicht übersetzt, da sich Schüler verschiedener Muttersprachen in einer Klasse befinden; das Lernen der Sprache findet nicht nur mit Bezug auf den Lehrer statt, sondern die Schüler benutzen die eine oder andere Sprache mit ihren Kollegen im Hof, im Schulbus etc.; das Lernen ist spielerisch, ohne auswendig Lernen gestaltet – ähnlich dem Erlernen der Muttersprache. Differdingen bietet ab dem 1. Grundschuljahr Portugiesisch als 1. Sprache mit annähernd Muttersprachen-Niveau an. Eine weitere Schule ist für Luxemburg-Stadt in Planung. Erstmals, 60 Jahre nach der Gründung der klassischen Europaschule nimmt man dieses pädagogisch interessante, sehr erfolgreiche Modell wahr.
All diese Schulen funktionieren nicht mehr mit dem luxemburgischen Curriculum, sondern folgen entweder anderen öffentlich-nationalen Schulen (Frankreich, Großbritannien) oder bieten europäische, respektive internationale Programme und Abschlussprüfungen (IB oder „European baccalaureate“) an.
Entwicklung der nationalen und internationalen Schulen
Für uns interessant ist das Zusammenspiel der vorhandenen vier Kategorien, der öffentlich- und privat-nationalen mit den öffentlich- und privat-internationalen Schulen.
Bis in die 1950-er Jahre waren Luxemburgs Schulen ausschließlich national (privat und öffentlich). Der private, katholische Sektor ist ein Relikt der Jahrhunderte währenden, ausschließlich religiösen Erziehung, die hauptsächlich der jungen Elite galt. Neben dieser religiösen Schule entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts (Jules Ferry für Frankreich) ein allgemeines, obligatorisches, laizistisches und (Schulgeld-) freies System, welches über die folgenden Jahrzehnte dominant wurde. Während die öffentlich-nationale Schule das Prinzip der Chancengleichheit und Inklusion verfolgt, ist Effizienz das Ziel der privat-internationalen Schulen.2
Wendepunkt in Hinsicht auf das jakobinische System ist hier die Europaschule von 1953, die für Kinder von europäischen Beamten und zweitrangig für andere Schüler (nach Prioritäten mit zwei unterschiedlichen Kategorien und Schulgeld-Forderungen) mit dem oben zitierten sehr unterschiedlichen Ansatz offen war. Diese privat-internationalen Schulen waren ein Angebot an Migranten des obersten Einkommen-Dezils.
Diese Schulen finanzierten sich bis 2004 selbst, sprich die Eltern, bzw. Betriebe und das Europäische Parlament (Europaschule) trugen sie. Stetig nahm die Zahl der Schüler zu, und zwar deutlich mehr als die der nationalen Schule. Angesichts eines wachsenden Anteils von Migranten, besonders hochqualifizierter, die die teilweise sehr hohen finanziellen Forderungen nicht erfüllen konnten, öffnete die “Education nationale” ein Schulgeld-freies Angebot im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte. Die Entwicklung (quantitativ und qualitativ) dieses Sektors wurde in der politischen Debatte nur geringfügig beachtet.
Noch ist der Anteil öffentlich-internationaler Schüler vergleichsweise gering, auch wenn das Wachstum angesichts der zahlreichen neuen Schulen beachtlich ist und selbstverständlich höher als das der privat-internationalen Schüler während der letzten Jahre. Die Zahl der Schüler im nationalen System wuchs zwischen 2006/07 und 2016/17 um 7,3% im Vergleich zu einem Wachstum von 113,6% der Schüler der beiden internationalen Systeme3.
Wir beobachten einen durchschnittlichen Anteil von luxemburgischen Schülern von 9,8% in den privat-internationalen und 20,6% in den öffentlich-internationalen Schulen (question parelementaire n. 455/2018). Diese Zahlen überschätzen eventuell die Realität, da Luxemburgs Gesetz (23. Oktober 2008) zur doppelten Staatsbürgerschaft zur Folge hat, dass Migranten mit zusätzlicher luxemburgischer Nationalität nur als Luxemburger registriert werden, so dass der Migrations-Hintergrund nicht mehr ersichtlich ist. Sie unterschätzen aber vielleicht auch die Wünsche der Eltern, besonders die der luxemburgischen.
Laut Ministerium sind die vorhandenen Plätze besetzt und besonders für die französisch-sprachigen Sektionen gibt es weitaus mehr Nachfrage als Plätze. Laut Beobachtung versuchen nicht nur Expat-Eltern ihre Kinder dort einzuschulen. In Differdingen werden 50% der Plätze an Schüler, die in Differdingen wohnen, 25% an solche aus der unmittelbaren Umgebung und 25% an Schüler von weither, so auch Kinder von Grenzgängern. 20% der Schüler sind „élèves nécessiteux“, somit aus nicht wohlhabenden Familien. Die Erfolgsquoten sind deutlich besser als die der nationalen Regelschule.
Kommen wir zur Frage der Wertschätzung der nationalen versus internationalen Schule, und zwar innerhalb eines Nationalstaates im Rahmen eines globalisierten Kontextes. Nationale Schulen bieten ein nationales Curriculum und internationale entsprechend ein internationales Programm an. Wie wird dieses institutionalisierte nationale und internationale Kulturkapital4 eingeschätzt? Gilt das eine mehr als das andere?
Nimmt man die Wachstumsrate als Indikator, so steht das internationale Kulturkapital deutlich über dem nationalen.
Geht man davon aus, dass hauptsächlich Migranten-Eltern internationale Schulen wählen, und zwar im Sinne ihrer Lebensplanung, so handelt es sich lediglich um eine dem entsprechende Wahl und nicht unbedingt um eine höhere Positionierung desselben.
Betrachtet man die Position der verschiedenen Migranten-Kategorien (Bolzman, 2012) in Luxemburg, so gibt es deren zwei:
- die, die sich in Hinsicht auf die Luxemburger „unterschichten“, zumeist Portugiesen und eine kleine Gruppe Drittstaatsangehöriger), der Fall der traditionellen Migranten versus
- die, die sich mit einem höheren Bildungsniveau und/oder Einkommen (im obersten Dezil) „überschichten“ – der Fall hochqualifizierter Ausländer und der ökonomischen Elite. In Sachen Erziehungsniveaus stehen derzeit Osteuropäer an oberster Stelle, gefolgt von EU-15 Bürgern (ohne Portugal), also nord- und mitteleuropäischen Freizügler sowie Drittstaatsangehörige der nördlichen Hemisphäre5.
Eine solche intra-nationale Pyramide entspricht auch einer globalen Hierarchie der Nationen. So kann man Migranten entsprechend ihrem Ursprung als sich unter- oder überschichtende Bürger in ihrem Ankunftsland klassieren. Und sicher visieren Letztere eher eine internationale Schule für ihre Kinder, entsprechend ihrem eigenen beruflichen Werdegang.
Darüber hinaus weisen bestimmte Analysen (Rizvi & Lingrad, 2010) auf eine höhere Einstufung der internationalen Systeme, und zwar mit Sicht auf den Zugang zu Universitäten: Schüler internationaler Schüler haben einen leichteren Zugang zu international angesehenen Universitäten, die wiederum den Zugang zum internationalen Arbeitsmarkt, sprich zu internationalen Institutionen erleichtern. Im Gegensatz dazu ist die nationale Schule das ideale Sprungbrett in den nationalen öffentlichen Dienst, wie das einmal ein hoher Beamter der “Education Nationale” formulierte6. Globales siedelt sich über dem Nationalen an, auch wenn globale Konzepte, Politiken, internationales Recht den Nationalstaat zwecks Umsetzung derselben brauchen7.
Nimmt man also die Position der Migranten-Eltern in der Pyramide dieses Nationalstaates, so werden diese und damit auch ‘ihre’ Schulen mit dem internationalen Kulturkapital oberhalb des nationalen Systems angesiedelt. Die dominierenden gesellschaftlichen Gruppen bestimmen die Hierarchie der Werte, der Institutionen mittels ihrer eigenen Position innerhalb eines bestimmten Feldes. Nicht erstaunlich ist dann, dass auch luxemburgische Eltern ein solches Angebot für ihre Sprösslinge suchen. Lediglich die öffentlich-internationalen Schulen stehen hier allen zur Auswahl.
Ohne Zweifel ist das jakobinische Regime durch ein sich erweiterndes internationales System aufgebrochen, ebenso wie der theoretisch homogene Nationalstaat in Luxemburg schon lange nicht mehr existiert. Entsprechend sind Kritiken der öffentlich-internationalen rezenten Angebote seitens nationaler Gewerkschaften verständlich, deren Aktionen und Missionen sich auf den Nationalstaat begrenzen und die internationalen Schulen widersprechen dem jakobinischen Prinzip; die üblichen Parameter in Sachen gewerkschaftlicher Bewertungen greifen nicht mehr; entsprechend kommt die rezente Internationalisierung laut Gewerkschaften einer Privatisierung gleich, ist ergo wenig erwünscht, auch wenn diese öffentlich-internationalen Schulen allen Schülern zugänglich sind. Im Gegensatz dazu nimmt die Regierung die desiderata jener Eltern, die sich im oberen, besser im obersten Segment positionieren, ernst:
« Les chiffres de la rentrée scolaire 2018-2019 montrent une fois de plus le succès des classes internationales de l’école publique. […]. L’Éducation nationale a su créer une réelle alternative publique aux offres privées et répond ainsi à un besoin concret de la population scolaire au Luxembourg »8, mit einer immer heterogeneren Schülerschaft.
Migranten sind nicht eo ipso benachteiligt: Je nach geographischer Herkunft und Position im Ursprungs- sowie im Ankunftsland können sie sich oben oder unten ansiedeln. Vielleicht nimmt die Regierung die Wünsche der hochqualifizierten Ausländer ernster als sie das im Fall der sich unterschichtenden Migranten tat9.
Wie Beck sagte: „Das Ende der nationalen Klassengesellschaft ist nicht das Ende sozialer Ungleichheit, sondern genau im Gegenteil die Geburt radikalerer neuer ‘kosmopolitischer’ Formen sozialer Ungleichheit, denen (bislang) keine institutionalisierten Antworten (Gewerkschaften, Wohlfahrtsstaat) entsprechen.“10
Gleiches könnte man von der Sozialversicherung sagen, die ebenfalls ihre nationalstaatlichen Charakteristika aufweist, mittlerweile europäischen Verpflichtungen in Hinsicht auf eine Koordination unterworfen ist, jedoch weit entfernt davon ist, durch Europäisierung harmonisiert zu sein. Nichtsdestotrotz sind Wohlfahrtssysteme wegen der Freizügigkeit stärker europäischen Bedingungen unterworfen, als das für die Schule der Fall ist.
Rizvi, F. & Lingrad, B., 2010, Globalizing Education Policy, New York: Routledge.
Cf. chiffres-clé der zwei Jahrgänge, jeweils p. 12 (2006/07) und p. 14 (2016/17)
Bourdieu, P. 1979, La distinction, Paris : les Editions de Minuit
Hartmann-Hirsch & Amétépé, 2019, Libre Circulation : Ouverture ou Restriction? Une Migration récente du Portugal vers le Luxembourg, Paris: L’Harmattan, erscheint demnächst; Amétépé, F.& Hartmann-Hirsch, C., 2011, An outstanding positioning of migrants and nationals: the case of Luxembourg in Population Review, vol. 50, issue 1: 195 – 217.
Zitieren wir als nicht-repräsentativen Beweis zwei hoch positionierte luxemburgische Elternpaare, die das internationale System als deutlich interessanter empfanden im Vergleich zum nationalen: Beide Eltern hatten Kinder in der luxemburgischen und je eines in einer privat-internationalen Schule.
Sassen, S, 2006, Territory, authority, rights. From medieval to global assemblages, Princeton: Princeton University Press.
Les chiffres de la rentrée scolaire 2018/2019.
Die PISA Evaluationen haben immer wieder die systematische Benachteiligung der Migranten-Kinder hervorgehoben, gleichzeitig aber auch gesagt, dass Migration alleine nicht zur Benachteiligung führt.
Ulrich Beck, 2008, Jenseits Von Klasse und Nation in Soziale Welt , vol. 59 / 4: 302 – 327, p. 312.
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