Wer heute Marville, knapp 30 km westlich von Longwy, besucht, dürfte erstaunt sein, in diesem beschaulichen Dörfchen von knapp 500 Einwohnern derart ansehnliche Gebäude aus der Renaissance und eine dreischiffige Kirche aus dem Mittelalter vorzufinden. Sehenswert ist auch das Gebeinhaus mit rund 40 000 Schädeln und Knochen in der Hilarius-Kapelle, die etwas außerhalb der Ortschaft liegt. Wie ist dieser ehemalige Reichtum in einer heute vom Untergang der Eisenindustrie gekennzeichneten Region Lothringen zu erklären?
Nach Tod Graf Heinrichs IV. von Luxem-burg und Namur (1196) wurde seine knapp zehnjährige Tochter Ermesinde, einziges, sehr spät geborenes Kind, mit Graf Theobald von Bar verheiratet. Er brachte die Orte Marville und Arrancy als Wittum in die Ehe ein, so dass sie bei Theobalds Tod (1214) an Ermesinde und ihre Kinder fielen. Doch auch Theobalds Nachfahren aus dessen ersten beiden Ehen beanspruchten die ehemals barischen Güter, denn die Gegend war wirtschaftlich interessant, liefen doch hier mehrere Verkehrswege zusammen/entlang, die von Metz nach Namur oder Lüttich bzw. von Paris, Reims oder der Champagne und Verdun über Longwy nach Luxemburg führten. Nach langen Streitigkeiten einigten sich die beiden Grafen Heinrich V. von Luxemburg und Theobald II. von Bar am 2. April 1270, das ehemalige Witwengut als Kondominium zu verwalten. Sie ernannten fortan einen Propst par commun accort qui preignne guarde a la terre; würden sie sich mal nicht einigen können, sollten drei Schiedsrichter die Entscheidung treffen. Außerdem erklärten sie beide Burgen für neutral, falls sie gegeneinander Krieg führen sollten. Über die Verteilung der Steuereinnahmen ist im Vertrag keine Rede.
Verhandlungsdelegationen trafen sich in den kommenden Jahrzehnten öfters in Marville, um Streitpunkte zu regeln. So kam es u. a., dass Johann der Blinde und Heinrich IV. von Bar sich 1329 darauf einigten, in Zukunft alle Ämter doppelt zu besetzen. Den Herdpfennig von 12 Pfennig mussten die Einwohner an beide Herren zahlen. Auch die Einnahmen von Bannmühle, Bannofen, Geleit und Kaufhalle wurden geteilt, wobei der Barer 1380 seinen Anteil sogar an Dritte verkaufte. Die doppelte Zugehörigkeit von Marville geht schön aus dem 1327 bestätigten Stadtsiegel hervor: heraldisch rechts der Luxemburger Löwe auf blau/silber gestreiftem Grund, links zwei goldene Barfische auf blauem Grund. Die doppelte Verwaltung zog zwar immer wieder Rivalitäten nach sich, die im Konsens geregelt wurden, brachte aber auch eine verhältnismäßig hohe Zahl an Amtsträgern in der Stadt mit sich. So profitierte vor allem Marville als Zentralort der „terres communes“ von dieser politischen Lösung.
Der ummauerte Burgort Marville war schon von Theobald I. nach der sog. „loi de Beaumont“ befreit worden, genoss also Selbstverwaltungsrechte, die regelmäßig von den Landesherren bestätigt wurden. Nach dem Tod Theobalds avancierte Marville zum Amtssitz eines Propstes, des regionalen Vertreters des Luxemburger Landesherrn, und beherbergte folglich einen gräflichen Speicher, in dem die Naturalabgaben der umliegenden Dörfer gesammelt wurden. Eine Halle (Erstbeleg: 1244), Transitzoll (1260), Waage und Maß (1306), Marktzoll (1306), Notariat (1317), Lombarden als Geldwechsler (1319), Münzatelier (um 1330), Jahrmarkt (1338) sprechen für zentrale wirtschaftliche Funktionen des Ortes. 1374 gewährte Herzog Wenzel die Erhebung von Handelsabgaben auf Getreide,Wein, Tuchen und anderen Waren, die zum Unterhalt der Befestigungen dienen sollten.
Im 14. Jahrhundert sind neben agrar- und weinwirtschaftlichen Tätigkeiten (u.a. Schafszucht!) Tuch- und Ledergewerbe in der Stadt belegt; Kürschner waren 1340 sogar schon als Zunft organisiert. 1214 oder 1227 wurde die St. Nikolaus-Kirche errichtet und damit das Pfarrzentrum von der extra muros liegenden Hilarius-Kapelle in die Stadt verlegt. 1295 stiftete Graf Heinrich VII. von Luxemburg ein Antoniterhospital, 1413 Werner Bertrand aus Arrancy, Pfarrer von Longsdorf bei Brandenburg, ein Hl. Geist-Hospital. Die Ausstattung eines Ortes mit derart zahlreichen und differenzierten Zentralfunktionen politisch-administrativer, wirtschaftlicher, kultureller und karitativer Natur bestätigt den Eindruck einer sehr erfolgreichen Entwicklung über das ganze 14. Jahrhundert hindurch. Laut gräflichem Urbar zahlten 1306 rund 400 Haushalte den Herdpfennig, was einer Bevölkerung von 1600-2000 Einwohnern entspricht. Damit gehörte Marville zu den fünf wichtigsten Städten der Grafschaften Luxemburg und Bar.
Arrancy, wo eine barische Burg seit 1211 bezeugt ist, und das von 1200-1214 als Amtssitz eines Propstes diente, blieb zwar in seiner Entwicklung hinter Marville zurück, hatte aber schon 1213 vom damaligen Propst ein Hospital bekommen, war spätestens 1254 ummauert, wurde 1265 nach der „Loi de Beaumont“ befreit und verfügte auch über einen Marktzoll, während Lombarden 1316 nachgewiesen sind, ein Notariat 1358, Tuch- und Leder-gewerbe aber erst im 15. Jahrhundert.
Das Kondominium stand sicher nicht am Ursprung der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung der beiden Städtchen, doch die damit einhergehende Neutralität war zweifellos ein wesentlicher Förderungsfaktor. So verfügte z. B. 1328 König Karl IV. von Frankreich, der mit Johanns des Blinden Schwester Marie verheiratet gewesen war, die Bewohner der Territorien Johanns von Luxemburg, „specialement ceux de la prevostei de Marville“ dürften zollfrei Wein, Getreide und andere Nahrungsmittel aus dem Königreich importieren. Auch im Herzogtum Luxemburg und der Grafschaft Chiny sowie in der Grafschaft Namur und wahrscheinlich im Hochstift Lüttich und im Herzogtum Bouillon waren die Leute aus dem Kondominium von Passierzöllen befreit. Diese kommerzielle Aktivität konnte Alain Girardot auch anhand der burgundischen Zollregister aus dem 14. Jahrhundert von der Grenze zum deutschen Reich nachweisen: Zahlreiche Einträge betreffen Händler aus Marville, die einen umfangreichen Tuchhandel betrieben und z.B. den Ostermarkt von Auxonne an der Saône bis ins 15. Jahrhundert und seit dem Ende des 13. Jahrhunderts die bedeutenden Messen von Chalon besuchten, auf denen sie u.a. die neuen, leichteren Wolltuche anboten, die seither im Hennegau gewebt wurden. Möglicherweise standen sie im Dienste der lombardischen Geldhandelsfirmen, die damals den Nord-Süd-Tuchhandel in Europa beherrschten und Niederlassungen in Arrancy und Marville hatten. Auf der Rückfahrt brachten sie offenbar burgundischen Wein mit. Händler aus Marville sind im Übrigen auch in Reims, Châlons-en-Champagne, Nancy, Saint-Hubert und Luxemburg, wo z.B. 1558 zwei Bürger aus Marville Salz und Leder kauften, belegt. Kaufleute wie diese sowie Amtsleute aus dem Kleinadel bauten im 16. Jahrhundert die bis heute erhaltenen Wohnhäuser mit Loggia und ließen die reich verzierten Grabmonumente in der Friedhofskirche St. Hilarius errichten.
War das Kondominium in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert in seiner Existenz bedroht, weil die Herzöge von Burgund Lothringen und Bar zu erobern drohten, so stellte Karl V. es 1519 wieder her. Charles Aimond zufolge erreichten Marville und Arrancy damals ihre Blütezeit, wie sich aus den steigenden Einnahmen aus Zoll und Walkmühle ablesen lässt. Dem Kondominium war es offenbar gelungen, in den Kriegen zwischen Karl V. und François Ier, die u.a. zur mehrmaligen Eroberung der Stadt Luxemburg geführt hatten, seine Neutralität zu wahren. 1509 hatte Marville von der Herzogin Philippa von Bar die Genehmigung zu zwei Jahrmärkten neben dem Wochenmarkt erhalten; außerdem durften sie Tuche in der Art anderer barischer Städte herstellen. Auch das Lederhandwerk kannte dank neuer Gerbereien (1637-38 werden 13 Stück gezählt) einen Aufschwung. Im späten 16. Jahrhundert diente Marville als Umschlagplatz für das Getreide, mit dem die Ardennen und das Lütticher Land beliefert wurden.
Zur selben Zeit kam es dann aber immer häufiger zu Zwist und Streit zwischen den Amtsleuten der beiden Landesherren. Jeder versuchte neue Taxen zu erheben, die nicht geteilt wurden. So verlangte etwa Gouverneur Peter Ernst von Mansfeld 1589 von den rund zwei Dutzend Dörfern und Städten der „terres communes“ eine Abgabe zum Unterhalt der Pferde der spanischen Artillerie. Immer häufiger versammelten sich die Bevollmächtigten des spanischen Königs bzw. der Erzherzöge Albert und Isabelle und des Herzogs von Lothringen und Bar in Marville und erstellten eine Bestandsaufnahme der jeweiligen Rechte und Besitzungen. Ein erster Vertrag teilte 1602 den Gemeinschaftsbesitz bis auf die Stadt Marville mit einem halben Dutzend umliegender Ortschaften, die Kondominium blieben und weiterhin Handelsfreiheit genossen. Von der fortbestehenden Prosperität zeugen Häuser aus dem frühen 17. Jahrhundert mit großen Speichern, die als Warenlager dienten. Erst der Dreißigjährige Krieg setzte dem Kondominium ein Ende. Im Pyrenäenvertrag von 1659 wurde Marville mit dem ganzen Süden des Herzogtums Luxemburg (Thionville, Montmédy) dem Königreich Frankreich zugesprochen.
Bibliographie
Jean-Marie YANTE, „Le condominium barro-luxembourgeois de Marville-Arrancy (XIIIe-XVIIe siècles). Enjeux politiques, réalités administratives et atouts économiques“, in : Les enclaves territoriales aux Temps Modernes (XVIe-XVIIIe siècles. Colloque international de Besançon, 4 et 5 octobre 1999, éd. p. Paul DELSALLE et André FERRER, Besançon 2000, S. 235-258.
Charles AIMOND, Histoire de Marville. Terre-Commune aux Duchés de Luxembourg et Bar-Lorraine (PSH 76), Luxembourg 1958.
Alain GIRARDOT, „Les marchands de Marville au XIVe siècle“, in: Le Luxembourg en Lotharingie. Mélanges Paul Margue, Luxembourg, 1993, S. 167-175.
Michèle PLATT, „Die kleinen Städte und zentralen Orte im mittelalterlichen Herzogtum Luxemburg“ (Publ. du CLUDEM, 45), Luxemburg 2018 (im Druck)
Simone COLLIN-ROSET / Marie-France JACOPS, Marville Meuse (coll. Images du Patrimoine), Nancy 1988.
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