Die parlamentarische Kulturkommission hat ihre Arbeit am Gesetzesprojekt 6913 „sur l’archivage“ endlich abgeschlossen, allerdings ohne je die Archivbenutzer nach ihrer Meinung gefragt zu haben. Wenn das (hoffentlich) letzte Gutachten des Staatsrats vorliegt, kann das Gesetz im Kammerplenum verabschiedet werden. Damit bekommt Luxemburg sein erstes Archivgesetz seit 1839. Das Gesetz verpflichtet endlich alle Staatsverwaltungen, ihre Dokumente dem Nationalarchiv zuzuführen, sobald sie nicht mehr für die Verwaltung gebraucht werden. Weil das bislang nicht der Fall war, ging z.B. das Original des Gründungsvertrags der NATO von 1949, das im Außenministerium aufbewahrt wurde, vor etlichen Jahren durch den Reißwolf. Das Beispiel ist bekannt, der Verlust dürfte kaum der einzige Fall gewesen sein.
Ausgenommen von dieser Abgabepflicht ans Nationalarchiv sind die Abgeordnetenkammer, der Staatsrat, die Gerichte, der großherzogliche Hof, der Ombudsman, der Rechnungshof, das großherzogliche Institut sowie „les établissements publics de l’État“. Wer mit Letzteren gemeint ist, bleibt unklar, da es keine gesetzliche Definition davon gibt1. Darunter können so unterschiedliche Institutionen wie Neimënster, MUDAM, die Universität, der Fonds Kirchberg und der Fonds Belval, die Berufskammern, usw. fallen. Ausgenommen sind auch die Religionsgemeinschaften, die Gemeinden und die Gemeindesyndikate. Während die katholische Kirche ein gut geordnetes Diözesanarchiv unterhält, in das in den letzten Jahren alle Pfarrarchive überführt wurden, hat – soweit mir bekannt – nur die Stadt Luxemburg eine ausgebildete Archivarin. In allen genannten Ausnahmefällen werden die Verantwortlichen aber aufgefordert, mit dem Nationalarchiv Kooperationsverträge abzuschließen für den Fall, dass sie ihr eigenes Archiv nicht selbst verwalten können.
Auf Betreiben des Historischen Instituts hat die Universität Luxemburg bereits eine solche Zusammenarbeit, die kostenlos ist, vereinbart.
Dem Historiker stehen allerdings die Haare zu Berge, wenn er in Artikel 4 § 5 lesen muss: „Les archives couvertes par le secret fiscal ne sont pas soumises aux dispositions de la présente loi.“ Damit wird das Steuergeheimnis verewigt. Steuerhinterzieher sollen nicht nur heute in Ruhe leben dürfen, sondern ad vitam aeternam. Die parlamentarische Kulturkommission hat diese radikale Ausnahmebestimmung gegen den Vorschlag des Staatsrats bestätigt, der nur ein „régime dérogatoire“ mit eventuell anderen Fristen vorgeschlagen hatte. Dem Vernehmen nach hat das Finanzministerium aber darauf bestanden. Ob damit irgendein Finanzjongleur mehr an Land gezogen werden kann, darf bezweifelt werden. Dem Historiker und der internationalen Forschung und damit auch der Luxemburger Gesellschaft wird auf ewig verborgen bleiben, welches Steueraufkommen die ARBED in ihrer langen Geschichte geleistet hat, welchen Beitrag sie also zu den Staatsfinanzen geleistet hat, wieviel Steuern ein Emil Mayrisch oder ein Paul Würth oder ein Paul Eyschen bezahlt haben, oder welchen Beitrag einzelne Sozialgruppen wie die Arbeiterklasse oder die Bourgeoisie zum Aufbau des Wohlfahrtsstaates in den einzelnen Epochen erbracht haben. In meiner Dissertation von 1990 hatte ich u. a. noch die Weinsteuerlisten der Stadt Luxemburg aus dem 14.-15. Jahrhundert auswerten können, um die Bedeutung des Weinhandels und des Weinkonsums im mittelalterlichen Luxemburg zu untersuchen2. Theoretisch wäre das heute nicht mehr möglich, da der Ausschluss von Fiskaldaten laut Gesetzestext zeitlich unbegrenzt ist. Nun beschwichtigen zwar die aktuellen Archivdirektorinnen, das sei in der Praxis kein Problem. Aber warum wäre es dann ein Problem, wenn man rezentere Epochen bearbeiten möchte? Dass es Sperrfristen gibt, ist normal und auch im Gesetzesprojekt vorgesehen. Während bisher (laut Reglement von 2001) für alle Archivdokumente eine Frist von 30 Jahren galt, wird in Zukunft jedes Dokument, das im Nationalarchiv angelangt ist (also nachdem die ursprüngliche Verwaltung es abgegeben hat, da sein praktischer Nutzen abgelaufen ist) und nachdem es dort inventarisiert wurde (was angesichts des Personalmangels wohl Jahre dauern kann), sofort einsehbar sein. Artikel 16 sieht aber etliche längere Fristen vor: 50 Jahre, wenn Fragen der äußeren Sicherheit des Landes berührt werden, wenn es sich um Gerichtsakten handelt oder wenn es um Geschäftsgeheimnisse geht. Archivgut mit persönlichen Daten (dazu gehören u. a. die Finanzsituation, die ethnische Herkunft, die politische Meinung, religiöse oder philosophische Überzeugung, die gewerkschaftliche Tätigkeit, Gesundheit und Sexualleben) werden 25 Jahre nach dem Tod der Person freigegeben. 75 Jahre nach dem jüngsten Dokument im Dossier beträgt die Sperrfrist, wenn das Todesdatum nicht bekannt ist. (Bei der Veröffentlichung der Liste jüdischer Kinder von September 1940 wurde diese Frist z.B. nicht eingehalten.) Diese Fristen gelten sogar für Inventare, in denen die Namen jener Personen aufgeführt werden, von denen eine Akte vorhanden ist. Notarakten unterliegen einer Sperrfrist von 75 Jahren. Außer im letztgenannten Fall kann der Archivdirektor/in nach Begutachtung durch den neu geschaffenen Archivrat die Frist verkürzen, wenn ein wissenschaftliches Interesse daran besteht (womit die Konsultation der zitierten Liste jüdischer Kinder wieder zulässig werden könnte).
Doch es bleibt ein weiteres Hindernis: Das Luxemburger Datenschutzgesetz ist strenger als das Archivgesetz und die Datenschutzkommission bewilligt nur sehr zögerlich wissenschaftliches Arbeiten mit personenbezogenen Daten wie Volkszählungen u.ä. So hat zur Zeit einer meiner Doktoranden große Mühe, die Genehmigung zu erhalten, die Volkszählungen von 1935 und 1960 zu benutzen, um die sozialtopographische Entwicklung einzelner Stadtviertel seit dem Schleifen der Festungsmauern zu untersuchen, unter dem Vorwand, dann könnte man ja den damaligen Wohnort der betroffenen Personen rekonstruieren (obschon Einzelpersonen bei der sozialhistorischen Dissertation keine Rolle spielen). Hier bleibt zu hoffen, dass die europäische Direktive 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr, die am 25. Mai 2018 in Kraft treten wird, Abhilfe schaffen kann, denn sie sieht in Artikel 50 ausdrücklich vor: „Die Verarbeitung personenbezogener Daten für andere Zwecke als die, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, sollte nur zulässig sein, wenn die Verarbeitung mit den Zwecken, für die die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbar ist. (…) Die Weiterverarbeitung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke sollte als vereinbarer und rechtmäßiger Verarbeitungsvorgang gelten.“ Hoffen wir, dass der Luxemburger Gesetzgeber das auch so sieht.
1. Vgl. https://www.wort.lu/de/lokales/etablissements-publicsdas-unbekannte-wesen-5031a83be4b07b6817897a77#.
2. Michel Pauly, Luxemburg im späten Mittelalter. II. Weinhandel und Weinkonsum (Psh 109; Publ. du CLUDEM, 5), Luxembourg 1994.
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