- Philosophie
Der Zerfall der Eliten – von Leistungsgesellschaft und Amoral
In meiner Schulzeit war es fast ein Hohn, wenn man es nicht auf das klassische Gymnasium schaffte. Die Kinder, die vermeintlich nicht gut genug gelernt hatten, mussten die technische Schule besuchen und einen technischen Beruf erlernen. Damals klang das wie eine Art Bestrafung. Die Gesellschaft belächelte kreative, freischaffende Tätigkeiten. Arbeit sei das nicht. Die Eltern atmeten auf, wenn die Kinder Recht, Medizin oder Wirtschaft studierten. Bestenfalls auch noch an Universitäten, die ihre Studenten aussieben und nur die Besten der Besten dort ihren Abschluss machen lassen. Der Grundstein für die sogenannten Eliten.
Protest gegen die Eliten zu führen ist ein populäres Motto. Individuen oder Organisationen folgen ihm, wenn sie mit dem Status Quo der gesellschaftlichen Situation nicht oder nicht mehr einverstanden sind. Doch auch im allgemeinen Sprachgebrauch scheint „elitär“ mittlerweile negativ konnotiert zu sein. Elitär ist, wenn nicht jeder Zugang hat, wenn es Abgrenzung gibt, wenn es Hierarchien in der Wertung von Menschen und Klassen gibt.
Dabei heißt das französische élire nichts weiter als „auswählen“ oder „auslesen“. Eine nach gewissen Kriterien sortierte Ordnung, die einem spezifischen Zweck dienen soll. Doch wer ist die menschgewordene Elite und gegen wen richtet sich der Unmut? Eat the Rich – das Mantra scheint Programm.
Der deutsche Elitenforscher Michael Hartmann definiert als Elite Personen, die dank ihrer Spitzenposition maßgeblich Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen haben können, sei dies durch ihr Amt oder Eigentum. Sie sind eine Art ausgewählte, führende Oberschicht aus Milieus wie Wirtschaft, Politik, Sport oder Kultur. Schwergewichtige Unternehmer, herrschende Politiker, renommierte Wissenschaftler, reiche Mäzene. Eigentlich müsste man aber sagen, dass man Eliten in fast allen Milieus begegnet, in denen ein gewisser Standard an gesellschaftlichem Wohlstand herrscht. Die gehobene Herkunft sei quasi die absolute Mindestanforderung, um in den Kreis der Führungsexzellenz einzutreten, erklärt Hartmann. Weitere wichtige Merkmale sind ein hervorragend diplomierter Bildungsweg und das Netzwerk innerhalb der elitären Runde.
Der normale Bürger kann die elitären Kreise meistens gar nicht erreichen: Nur äußerst selten glückt die soziale Mobilität.
Die Angehörigen der Elite seien oft die Kinder von Angehörigen der Elite, fasst der Journalist Jürgen Kaube diesen Effekt zusammen. Das Wissen um die elitäre Etiquette, die Machenschaften, die Tricks und Tipps, sind Jokerkarten für das Verkehren im exquisiten Kreis der Auserwählten: Wo ist der exklusivste Ort für die Sommerresidenz? Mit welchem Image unterstreicht man das Narrativ von Macht, Geld, Potenzial? Nur: Wer hat diesen Kreis überhaupt auserkoren? Und wäre es möglich, sich über andere Wege als die soziale Schicht und das Portemonnaie in die Oberschicht hineinzuschleichen? Über Leistung statt Herkunft?

Wohl kaum. Denn die Mär vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde, erweist sich immer mehr als Träume vernichtende Illusion. Der normale Bürger kann die elitären Kreise meistens gar nicht erreichen: Nur äußerst selten glückt die soziale Mobilität. Das Konzept der Elite ist dabei durchaus auch an Leistung und Können geknüpft: Wer es an die Spitze schaffen will, muss sich durch Wissen, Bildung, Tugend, Fleiß, Güte und Gewandtheit behaupten – so zumindest die Idee. Diese Deutung erklärt auch die hohen Erwartungen an die sozialen und moralischen Kompetenzen der Führungspositionen. Der Auserwählten.
Oft setzt hier die Enttäuschung gegenüber der Elite ein, denn die herrschende Elite kann sich vom Verruf nicht freisprechen. Die Kluft zwischen der Karitativität und dem Einsatz für das Gemeinwohl auf der einen und der Steuerhinterziehung und den Skandalen auf der anderen Seite wächst. Die meisten in gesellschaftlichen Führungspositionen werden selbstbejubelnd bejahen, dass sie der Gesellschaft Gutes tun, dass sie sparen und spenden, in die Gesellschaft und deren Fortschritt investieren. Nur stößt sich der Wille zum wohltätigen Impakt paradoxerweise mit der Bereitschaft, das eigene Vermögen zu diesem Zweck einzusetzen. Glücklicherweise senken Spenden den Steuersatz, Gelder können dank Investitionen in wohltätige Stiftungen außer Reichweite der Finanzämter geparkt werden. Dabei könnten die unfassbar hohen Gehälter der Führungsetagen eine substanzielle finanzielle Verantwortungsübernahme innerhalb der Gesellschaft darstellen – wenn man es nur wollte. Ganz im Sinne eines effektiven Altruismus, wie der Ethiker Peter Singer ihn beschreibt.
Wer am unteren Ende der Reihenfolge landet, fühlt sich oft minderwertig, unterkomplex. Welch ein Verbrechen an der individuellen Würde.
Doch Pustekuchen! Bezahlen sollen bitte die anderen! Stoßen dann noch Plagiatsaffären wie zu Guttenbergs Copy-Paste-Amnesie oder sündhaft teure Dienstreisen und Weine wie bei Fayot hinzu, geht auch der letzte Hoffnungsschimmer auf die sittliche und soziale Vorbildfunktion der Eliten verloren. Sie selbst nennen das grob euphemisiert „Interessenkonflikt“. Die ehrlichere Variante: Das Interesse der Gemeinschaft konfligierte mit meinem Eigeninteresse, als ich bei meinem Dinner Steuergelder für einen exquisiten Brunello Castelgiocondo Frescobaldi ausgab. Sorry dafür!
Die Herkunftselite verdanke, beurteile und rechtfertige ihre eigene Situation durch ihren persönlichen Maßstab, erklärt Hartmann. In diesem sind Macht und Wohlstand nahezu selbstverständliche Faktoren. Bedürftig zu sein, beängstigende existenzielle Fragen und das Gefühl der erlebten Ungerechtigkeit sind hingegen Situationen, welche die wenigsten der elitären Runde jemals kennenlernen mussten. Wie wichtig das karitative Konzept ist, können die Herkunftseliten theoretisch niemals richtig nachvollziehen.
Das Problem: Die sogenannten Auserlesenen sind immer noch Teil eines Ganzen, der Gesellschaft, ohne die sie selbst nicht bestehen könnten – und ohne die sie nicht da wären, wo sie sich jetzt befinden. In einem System, in dem einige Talente und Fähigkeiten mehr gefördert werden als andere, ist Erfolg leicht – sofern man die richtigen Talente hat und kultiviert. Doch es ist eine marktwirtschaftliche und politische Entscheidung, welche Kräfte ausbildungswert sind: Und das sind nun mal jene, die den Anforderungen des Marktes und dem bevorzugten Image einer Leistungsgesellschaft entsprechen.
Das systemische Auswählen beginnt also noch bevor sich die Gesellschaftsmitglieder überhaupt für das Rennen in Stellung bringen können. Der Rahmen der wünschenswerten Talente ist gesetzt, der Freiraum für die individuelle Entwicklung beschnitten. Doch was heißt dies für die Nicht-Auserwählten? Für die, die gerne mit Holz arbeiten, die Freude an der Gartenarbeit oder an der Pflege unserer Mitmenschen haben? Für die, die sich keine universitäre Bildung leisten können?
Der Beigeschmack dieses Ideals ist ein fader: Mit der Hierarchie der Menschen entsteht eine Hierarchie der Fähigkeiten. Wer am unteren Ende der Reihenfolge landet, fühlt sich oft minderwertig, unterkomplex. Welch ein Verbrechen an der individuellen Würde.
Noch schlimmer ist aber, dass die Auserwählten auf ihrem Weg nach oben über die Köpfe der anderen steigen: Sie können ihre Fähigkeiten nur deswegen ausbilden und monetarisieren, weil andere in der Zeit die systemtragenden Arbeiten verrichten. Diese sind notwendig, damit gesellschaftliches Leben überhaupt stattfinden kann. Ohne Pflegekräfte, Bauarbeiter, Bäcker, Hausfrauen und -männer würde der Alltag nicht funktionieren. Dann wäre gar keine Zeit für ein langes Studium, für endlose Meetings, für teure Kampagnen.
Eine Einsicht ist grundlegend: Elite ist nur, wer von einem System profitiert, das die Auswahl lebt. Gesamtgesellschaftlich ist das eine unglaubliche Ungerechtigkeit. Wenn ausgewählte Interessen mehr wert sind als die Entwicklung jedes Individuums, sind die soziale Spaltung und der Verlust der Kohäsion vorprogrammiert. Wer hat schon Lust, sich für ein Miteinander einzusetzen, wenn Positionen mit gesellschaftlicher Vorbildfunktion vorleben, dass für sie immer nur eines zählt – sie selbst.
Nora Schleich ist in der Philosophievermittlung tätig. Nachdem sie in Mainz zu Immanuel Kant promovierte, arbeitet sie freiberuflich in Luxemburg. Sie beschäftigt sich mit Fragen zu Kultur und Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Wissenschaft und interessiert sich für die existenziellen Probleme und Phänomene, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Lebenswelt ergeben.
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