- Gesellschaft, Politik, Religion
Die Demokratie gehört zur „DNA“ der katholischen Kirche
Für Friedrich Nietzsche ist die Demokratie „ein verbessertes, auf die Spitze getriebenes Christentum“1, für seinen französischen Philosophen-Kollegen Henri Bergson stammt sie aus dem Evangelium.2 Zeitlich näher bei uns zeigt Alain Badiou, dass Paulus als erster die Idee des Universalismus formulierte.3 Und der Philosoph Edouard Delruelle behauptet, dass Demokratie nur gemeinsam von Athen und Jerusalem her zu denken ist.4 Wenn dem so sein sollte, fragt man sich: Wieso ist die katholische Kirche immer noch so resistent gegenüber demokratischen Prozeduren?
Als sich die ersten Christen in Erinnerung an Jesus versammelten, tauschten sie sich darüber aus, was sie an ihm bewegte. Dabei teilten sie das Brot und ihre Güter. Sie elaborierten aus dem Ereignis Jesu und dessen Tod einen Diskurs, in dem Liebe zentral ist und zur Liebe des Fremden und des Feindes herausfordert. Aus hermeneutischer Sicht gilt der Diskurs der Inkarnation oder Kenosis Gottes und des Todes Jesu am Kreuz als Ausdruck der Selbstrelativierung des Absoluten. Absolute Wahrheiten werden durch das Ethos der Liebe ersetzt5.
Die Tischgemeinschaften der ersten Christen waren Erfahrungs- und Interpretationsgemeinschaften, die sich auf das Ereignis Jesus bezogen: „Wo zwei oder drei versammelt sind, in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20) Dies bildet meines Erachtens nach das theologische Fundament einer partizipativen, demokratischen Kirche.

Der Weg zur absolutistischen Monarchie
Die Gemeinschaften vergrößerten sich. Leitungs-, Lehrfunktionen und Hilfeleistungen entwickelten sich zu Kirchenämtern. Religionswissenschaftlich ist verständlich, dass diese Ämter durch den Geist der Liebe legitimiert und spiritualisiert wurden. Andererseits entstanden so aber auch asymmetrische Beziehungen.
Es kam zur Sakralisierung der Funktion, später des Amtsinhabers. Mit der Zeit entwickelte sich eine Standesordnung, bei der zwischen Laien und Klerikern unterschieden wurde. Im Kontext des zusammenbrechenden römischen Reiches wurden die Machtbefugnisse weiter ausgebaut und theologisch legitimiert. Das Heil kam dem Einzelnen durch Bischöfe und Priester als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen zu.
Dieser Prozess der Sakralisierung entsprach einer Theologie, die immer stärker durch supranaturale Vorstellungen gekennzeichnet wurde. Dabei degenerierte die ursprüngliche dialogische Mahlgemeinschaft zu einer religiös-sakralen Praxis und Pflicht. Die katholische Kirche riskierte damit, ein magisches Verständnis der Sakramente zu fördern. Immer wieder gab es aber Rebellen, die gegen diese Vorstellungen vorgingen. Definitiv geschah dies durch Martin Luther, der sich eine unmittelbare Beziehung zu Gott durch den Glauben des Einzelnen vorstellte.
Dem aufkeimenden Freiheitspathos der Protestanten hat die katholische Kirche ein Gehorsamspathos entgegengesetzt. Dies zeigte sich auch an der Entwicklung einer totalen Pastoralmacht, wie Michel Foucault sie beschrieb: Die „Hirten“ interessierten sich demnach für das Intimste ihrer „Schafe“. Der Beichtstuhl war dabei mindestens so wichtig wie der Altar. Der Gläubige wurde zum gehorsamen und ängstlichen „Empfänger“. Was Sünde ist, wurde kasuistisch und legalistisch definiert – wobei der Erfahrungshorizont des Büßers lange Zeit ausgeklammert blieb.6 Das Verzeihen als Heil konnte so auch zum Machtinstrument pervertieren.
Die Kirche musste erkennen, dass gerade die Säkularisierung die verschütteten Zugänge zu Partizipation und Solidarität wieder öffnete.
In der Auseinandersetzung mit der Moderne und dem Aufkommen des Nationalstaates entwickelte sich die katholische Kirche zur absoluten Papstmonarchie. Mit dem Unfehlbarkeitsdogma (1870) übte der Papst das Jurisdiktionsprimat, also die höchste Rechtsgewalt, und die höchste Lehrvollmacht aus. Somit gebot er den Katholiken, die moderne Wissenschaft, die bürgerlichen Freiheiten und den Verfassungsstaat abzulehnen.
In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es allerdings zu tiefen Wandlungsprozessen, welche zu anderen Wertprioritäten führten. Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung, Begehren und Genießen, politische Partizipation ersetzten das Paradigma des Gehorsams, der Ordnung und der Disziplin. Die Kirche musste erkennen, dass gerade die Säkularisierung die verschütteten Zugänge zu Partizipation und Solidarität wieder öffnete. Dies wurde von vielen als Befreiung erlebt.
Demokratie als Zeichen der Zeit
Das zweite vatikanische Konzil schliff einige Bastionen: Die Kirche öffnete sich vorsichtig für die Gleichheit von Laien und Klerikern. Dies zeigte sich auch im überarbeiteten Kirchenrecht von 1983. Der Kanon 204 stellte klar, dass alle Gläubigen am Geist Christi teilhaben: „Gläubige sind jene, die durch die Taufe Christus eingegliedert, zum Volke Gottes gemacht und dadurch auf ihre Weise des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaft geworden sind“, heißt es dort.
Trotz dieser Gleichheit aller Christen blieb die Macht den Klerikern reserviert. Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau lässt bis heute auf sich warten. Damit drückt sich die Kirche vor einem wesentlichen Teil der Menschenrechte. Wohl hat sich Papst Johannes Paul II als „demokratisierender Akteur“, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington schrieb, weltweilt profiliert. Nach Innen hin forderte er jedoch Gehorsamkeit.
Kann man über Gott abstimmen?
Wenn man wissen wolle, was die Kirche denkt, müsse man zu den einfachen Gläubigen gehen, schrieb Joseph Ratzinger, der Nachfolger von Johannes Paul II.7 Ist das Volk Gottes doch der Souverän? Können die heutigen Christen etwa über die „Göttlichkeit“ Jesu abstimmen?
Einerseits ist diese Frage nicht abwegig, da solche Entscheidungen auf Konzilien getroffen wurden – mitsamt von Laien und unter Druck von Kaisern und Fürsten. Andererseits impliziert die politische Demokratie Grenzen. Sie kann nicht alles zur Abstimmung bringen, ansonsten würde sie sich widersprechen. Über Wahrheit kann man nicht abstimmen lassen.
Die politische Macht in einer Demokratie organisiert sich so, dass niemand für sich in Anspruch nehmen kann, die definitive Wahrheit und Macht zu besitzen. Für den französischen Philosophen Claude Lefort bildet der „Ort der Macht eine Leerstelle“, dieser symbolische Ort ist unbestimmbar und nicht darstellbar.8 Mit dieser Leere muss der Demokrat leben.

Demokratie und Kirche basieren beide auf Vorentscheidungen, die man allerdings immer wieder neu interpretieren und versprachlichen sollte. So entscheidet sich der Christ für die Treue zum Diskurs der Liebe und Gerechtigkeit, diese stehen gegen absolute Gewissheit und geistliche Gewalt.
Gläubige haben deshalb „nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Anordnungen und Gesetze auf ihre Sinnhaftigkeit, Dienlichkeit und Gerechtigkeit im Sinne der Kirche als christliche Freiheitsordnung zu hinterfragen, und sie dementsprechend in verantwortetem Gehorsam zu befolgen und aus verantwortetem Ungehorsam abzulehnen“.9 Angesichts einer hohen Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft, in der menschliche Entscheidungen immer anders ausfallen können, müssen christliche Bildungsprozesse auf die Entwicklung von partizipativen, hermeneutischen und historisch-kritischen Kompetenzen sowie auf Urteilskraft zielen.
„Checks and Balances“
Für die christliche Sozialethik gilt, dass die kleinen Gemeinschaften aufgrund ihrer Kompetenzen zusammen mit ihren jeweiligen Leitungsbefugten selbst entscheiden, wie sie ihre Zukunft gestalten. Nur wo sie dies nicht schaffen, soll die übergeordnete Einheit sie unterstützen.
Bei dieser Funktionsweise nach dem Prinzip der Subsidiarität schwingen sowohl Momente der Demokratisierung als auch des Föderalismus und des Pluralismus mit. Konkret heißt dies beispielsweise, dass die einzelnen Gemeinschaften Projekte und gemeinsame Initiativen für eine Diözese vorschlagen, im Netzwerk mit anderen Gemeinschaften diskutieren, demokratisch entscheiden und dann mitverantworten.
Beim Missbrauchsskandal, bei Vertuschung aus Kirchenräson, autoritärem Gehabe oder finanziellen Begehrlichkeiten sehen wir, dass eine Teilung der Zuständigkeiten und der Macht notwendig ist: in jeweils eine ausführende (exekutive), gesetzgebende (legislative) und rechtsprechende (judikative) Gewalt. Ohne das Prinzip der „Checks and Balances“ – der Unterscheidung und Kontrolle – vermischen sich Gewalten, Aufgaben und Auswahl-, Qualitäts- und Bewertungskriterien guter Führung und führen zu Machtmissbrauch.
Um der spirituellen und sozialen Sensibilität (sensus fidelium) der Christen Wirksamkeit zu verleihen, sollten die Gemeinden ihre Leitung im Einverständnis des Bischofs wählen können. Papst Leo der Große schrieb dazu im Jahre 460: „Wer allen vorstehen soll, soll von allen gewählt werden.“10 An der Bischofs- und Papstwahl sollten deshalb auch die Laien beteiligt sein. Dies würde solche Prozesse transparenter und unabhängiger von römischen oder anderen Machtinteressen machen.
Um den monarchischen Charakter der katholischen Kirche zu überwinden, bräuchte es sowohl auf weltkirchlicher als auch auf diözesaner Ebene ein richtiges Kabinett. Ähnlich wie in einer Demokratie bräuchte es ein Organ, das Themen und Projekte kontrovers debattiert, die Arbeit zwischen den Ressorts rechtmäßig koordiniert und kollegial Entscheidungen trifft.11 Vor allem aber sollten auf allen Ebenen gewählte synodale Gremien bestehen, die über konzeptuelle und organisatorische Fragen beraten und entscheiden. Ihnen gegenüber müsste das jeweilige Kabinett Rechenschaft zu der Umsetzung der Projekte und den Finanzen ablegen.
Wegen der menschlichen Begrenztheit und der Fehleranfälligkeit von Behörden bräuchte es ein Verwaltungsgericht, bei dem man gegen Justizirrtümer, Gesetzesverletzungen im Verfahren, Missachtung der Grundrechte oder falsche Begründungen der Entscheidungen appellieren kann.
Demokratie und Autoritätsverständnis
Die Autorität eines Amtsträgers begründet sich im Auftrag, die jeweilige Gemeinschaft zu begleiten, offen zu sein, um den Nächsten zu begegnen und die Herausforderungen qua Entwicklung von Innerlichkeit, Gerechtigkeit und Feindesliebe anzugehen.
Die Macht des Amtsträgers (potestas) fußt auf einer reflexiven Ausbildung, seiner Wahl durch die entsprechende Gemeinschaft und auf der Anerkennung durch den Papst oder den Bischof. Seine Autorität (auctoritas) gründet in seinen Fähigkeiten, die Gemeinde zu unterstützen, die Herausforderungen der Zeit zu verstehen, ungerechte Wirklichkeiten zu verändern und eine singuläre Spiritualität im Geiste Jesu zu entwickeln.12

In einer „demokratischen“ oder subsidiären Kirche braucht es jedoch Ämter, die entsakralisiert, zeitbegrenzt und wechselbar sind. Sie braucht Strukturen, in denen Menschen kreativ und in Liebe zur gemeinsamen Welt Neues denken und schaffen können. So wird das Paradigma der Gehorsamkeit durch das Paradigma der demokratischen Partizipation ersetzt.
Die katholische Kirche steht aktuell – wie die Demokratien – vor der „Möglichkeit der Möglichkeitsvernichtung“13. Um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit Willen muss die katholische Kirche kreative Formen der demokratischen Partizipation entwickeln!
Schlussfolgerung
„Metaphysisches“ – also supranaturales Denken – und die Sakralisierung der katholischen Kirche und ihrer Amtsträger förderten die Verkultung des Glaubens. Die Wahrheit und das Heil kommen in dieser Anschauung von oben. Demgegenüber steht „Gott“ im christlichen Diskurs von Anfang an für „De-absolutierung“ und Selbstrelativierung.
Alle Christen sind dazu aufgerufen, den „leeren Platz“ einzunehmen, selbst zu denken, die Botschaft Jesu in der Gemeinschaft mit anderen kontextuell zu interpretieren und kreativ unterschiedliche Gemeinschaftstypen zu entwickeln. In der Liebe als relationales Geschehen unterstellen die Christen dem Nächsten ein Wissen um Wahrheit. Sie dialogisieren und setzen sich für Gerechtigkeit und Solidarität ein. Gemeinsam.
1 Friedrich Nietzsche, Nachlass, 3 (98), KSA 9,73, 1880, vgl. hierzu auch: Jenseits von Gut und Böse, München, Goldmann, 1981, S. 91.
2 Henri Bergson, Les deux sources de la Morale et de la Raison, Paris, PUF, 1932, S. 301.
3 Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris, PUF, 1997.
4 Edouard Delruelle, De l’homme et du citoyen. Une introduction à la philosophie politique, Louvain-La-Neuve, De Boek, 2014, S. 213.
5 Gionni Vattimo, Of Reality. The purposes of Philosophy, New-York, Columbia University Press, 2016, S.116 f.
6 Franz-Xaver Kaufmann, Katholische Kirchenkritik, Luzern, Exodus, 2022, S.151.
7 Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München, DTV, 1977, S. 254.
8 Claude Lefort, Essais sur le politique : XIX et XX siècles, Paris, Philosophie Esprit, 1986, S. 29.
9 Sabine Demel, Das Recht fließe wie Wasser. Wie funktioniert und wem nützt Kirchenrecht?, Regensburg, Verlag Friedrich Pustet, 2017, S. 148.
10 Heinrich Fries, „Leiden an der Kirche“, In: Christ in der Gegenwart (1989), Jg. 41, Nr. 7.
11 https://www.herder.de/stz/wiedergelesen/braucht-rom-eine-regierung/ (letzter Aufruf: 20. Juni 2023).
12 Jean-Pierre Lebrun et Alain Eraly, Réinventer l’autorité. Psychanalyse et sociologie, Toulouse, Erès, 2021, S. 221.
13 Andreas Urs, Sommer, Entscheide dich! Der Krieg und die Demokratie, Freiburg, Herder, 2023, S. 25.
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