Fantastische Fiktionen – Die Macht des Als Ob!

Die Wahlperiode ist eine Zeit der Fiktionen und Illusionen. In den Wahlprogrammen sind die fantastischsten Ideen zu finden. Steuersenkungen à gogo, so viel Wohnraum, so viel Freiheit, so viel Optimum! – und schon sind wir dabei, schlaraffenlandähnliche Visionen zu…? zu was? zu diskutieren? zum Träumen anzubieten? als reale Option zu präsentieren?

Die Verwirrung ist groß, auf dem politischen Marktplatz wird es laut und lauter – und ganz am Rande fragt sich dann die Philosophie, was hat es eigentlich mit Fakten und Fiktionen auf sich? Was machen Illusionen und Utopien mit dem Menschen – und wann brauchen wir sie? Die Lust am Träumen kennen wir alle, das so tun „als ob“ beherrschen schon Kinder. Dieses „als ob“ ist stets präsent, nur sind wir uns dessen gar nicht bewusst. So offensichtlich wie im Wahlkampf tritt es nämlich eher selten auf.

Ganz oft stellt das „als ob“ sogar eine Notwendigkeit dar: Um das Leben gestalten zu können, müssen wir so tun, als ob wir morgen wieder aufwachen, als ob die Sonne Tag für Tag aufgeht, als ob es uns möglich wäre, die Welt mit unseren Handlungen zu verändern. Ganz im letzteren Sinne müssen wir so tun, als ob es den freien Willen gäbe, nach dem wir handeln können. Welchen Sinn fänden wir wohl im Alltag, gingen wir davon aus, dass uns lediglich Triebe und Instinkte durch den Tag bringen würden? Wäre unser Handeln, unser Denken frei? Wohl eher nicht. Unsere Freiheit bleibt aber Fiktion, es ist noch keinem gelungen, überzeugend zu beweisen, dass es sie gibt oder dass es sie nicht gibt. Aber wir gehen davon aus, und benehmen uns … als ob.

„Fictio“, heißt es auf Latein, Annahme, Unterstellung, Erdichtung. Die Fiktion beschreibt dabei Umwege des Denkens. Hans Vaihinger beschreibt in seiner „Philosophie des Als Ob“, dass man sich bei einer Fiktion bewusst ist, dass es sich um etwas Fiktives, Ausgedachtes handelt, das vom wirklichen Sein zu unterscheiden ist. Die Fiktion ist also subjektiv, denn das Ich, das Subjekt, bringt sie hervor. Zudem hat jede Fiktion einen Zweck, sie wird aus einem spezifischen Grund erdacht – und den, so Vaihinger, darf man nie vergessen: Mit dem Denken als Werkzeug loten wir unser Verständnis der Wirklichkeit aus. Spekulationen, Annahmen und Gedankenexperimente sind keine Wirklichkeitsgarantien, sondern die Basis für Modelle, die als Grundstein von Erklärungen und Theorien dienen. 

Solche Fiktionen sind berechtigt und legitim, durch sie erreichen wir einen mehr oder weniger einheitlichen Konsens in der Wissenschaft. Natürlich, und hier meldet sich der Philosoph Karl Popper zu Wort, muss eine Theorie korrigierbar sein – das endgültige Wissen um die Wirklichkeit, ebenso wie um die oben erwähnte Freiheit, ist uns nie gegeben. 

Diese Demut ist es, die der Illusion nicht zukommt. Illusionen verkaufen das Erdachte als wirklichkeitsgetreu und versuchen, den fingierten Charakter zu verbergen. Sie beruhen auf Wunschdenken und erfüllen keinen wissenschaftlichen oder praktisch-sozialen Zweck; sie brauchen den Glauben an sie, sonst gibt es sie nicht: Das Dogma ist eine Illusion. 

Wenn wir uns die Unterscheidung von Fiktion und Illusion zu Herzen nehmen und dann Wahlprogramme und  -versprechen analysieren, entdeckt man so einige Trugbilder. Die Fiktion wird nämlich genau dann illusorisch, wenn ihr subjektiver oder bewusst fiktiver Charakter vertuscht wird. Der Zweck? Täuschung, ohne Erklärung oder Recht­fertigung. Ein interessantes Beispiel gibt es bei Konrad P. Liessmann: 

Wollen Wissenschaftler die Gründe der Klima­veränderung erforschen, formulieren sie Hypothesen, die sich dann empirisch bestätigen müssen. 

Stellen Sie Modelle auf, die den Klimawandel in den nächsten 200 Jahren darstellen sollen, sind dies Fiktionen, aber relevant für unsere Lebenswelt. 

Gibt nun jemand an, die „eine“ Lösung für das Klimaproblem gefunden zu haben, dann verbreitet er eine Illusion, die sich nur dann halten kann, wenn an sie geglaubt wird. 

Das Fantastische und Fiktive ist dabei seit jeher ein wichtiges Ventil für den Menschen, wir sind fasziniert von Traumwelten, die in Geschichten, Spielen und Künsten für außergewöhnliche und intensive Erlebnisse sorgen. Das hat nichts mit Moral oder Wissenschaft zu tun, sondern mit Kreativität und Freude, mit der Lust an Täuschung und Schein. Die utopische Fiktion lebt vom freiwilligen „Sich Hineinversetzen“ in eine Welt, die noch nicht ist und vielleicht nie sein wird, die allerdings so ersehnenswert ist, dass nur schon der Gedanke daran uns Trost spenden kann. Und dieses Empfinden ist ein unglaublicher Ansporn für den Menschen, denn wie sagte schon Kierkegaard: „Wenn etwas ethisch verstanden einen Menschen aufzustören und in Schwung zu versetzen vermag, so ist es die Möglichkeit“. 

Dem „Als Ob“ kommt eine wirkliche Macht zu, die ganze Kollektive zur Veränderung treiben kann. Dass das „Als Ob“ in der Politik so eine große Rolle spielt, ist demnach unvermeidlich und auch nicht per se verwerflich. Es muss jedoch klar bleiben, dass Gedankenexperimente und Modelle dafür da sind, sich Zukunftsszenarien auszumalen, denen man entgegenstreben kann (hier findet sich der Zweck der Fiktion), jedoch nicht, um als heilsbringende Wahrheiten den Menschen irrezuführen.  


Nora Schleich ist in der Philosophievermittlung tätig. Nachdem sie in Mainz zu Immanuel Kant promovierte, arbeitet sie freiberuflich in Luxemburg. Sie beschäftigt sich mit Fragen zu Kultur und Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Wissenschaft und interessiert sich für die existenziellen Probleme und Phänomene, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Lebenswelt ergeben. 

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code