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"Halbes Leben. Eine Autobiografie" von Romain Feltgen

Halbes Leben. Eine Autobiografie

von Romain Feltgen, Luxemburg, éditions guy binsfeld, 2021, 496 S., 30 €.

Den Wälzer von rund 500 Seiten habe ich an sechs Abenden verschlungen: Er liest sich wie ein ultra­spannender Krimi. Ein Mensch erzählt von – wenn ich richtig gezählt habe – 22 Anstalten und Institutionen, in denen er eingesperrt war, und von fast ebenso vielen Ausbrüchen, um seine Freiheit wiederzuerlangen. Er weiß, dass er nicht immer unschuldig ist, wenn er in ein Erziehungsheim oder ein Gefängnis oder die psychiatrische Abteilung einer Klink zwangseingewiesen wird, wenn er auf eine Polizeiwache gebracht oder auf die Sonderschule geschickt wird. Um nach einer Flucht aus Dreiborn zu überleben, bricht er mit einem Kumpan in ein Privathaus auf Howald ein. Dabei wird er vom Sohn des Eigentümers erwischt und angeschossen. Durch die Kopfverletzung, die er dabei erleidet, ist er halbseitig gelähmt. Seither entwickelt er zwar keine kriminelle Energie mehr, an eine geregelte Arbeit ist aber vorerst nicht zu denken, und so bewegt er sich vornehmlich im Garer Milieu, macht jeden Abend seine Kneipentour, sucht neue Freundschaften, und sei es nur um eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden, wenn er wieder mal nicht bei seiner Schwester übernachten kann. Das Drogenmilieu hingegen meidet er ganz bewusst.

Mitleid will Romain Feltgen nicht erregen, aber er erwartet Respekt. Das höchste Glücksgefühl empfindet er in den seltenen Augenblicken, in denen er ernst genommen wird. Zu den wenigen Personen, die dies tun, gehören in seiner Kindheit Guy und Lise Linster und später – nachdem er auf die „schiefe Bahn“ geraten ist – Emil Kolber von Action Prisons. Alle Namen im Buch sind zwar geschwärzt, die meisten sind trotzdem problemlos zu erkennen.

Das Buch liest sich wie ein Roman, ist aber eine Autobiografie, deren Wahrheitsgehalt von eingestreuten Dokumenten (u. a. ein Auszug aus forum Nr. 27/1978 von Action Prisons) bestätigt wird. Die Präzision, mit der der Autor noch Jahre später die Orte seiner zahlreichen Diebstähle beschreibt, ist krimireif. Personenbeschreibungen sind hingegen selten, obschon er sich öfter die Zeit damit vertreibt, Menschen zu beobachten. 

Romain Feltgen (* 1960) ist ein sensibler Familienmensch, der den engen Kontakt zu seinen Geschwistern keineswegs aus bloßem Überlebenstrieb pflegt, den Mutter und Vater aber zutiefst enttäuscht haben: Seine Mutter verließ das Haus nach der Geburt des fünften Kindes, und der Vater ließ ihn und seinen Bruder nach Dreiborn einweisen, weil er zu seiner neuen Lebensgefährtin zog. 

Man mag ihn gelegentlich als leichtgläubig einschätzen, da er begründetes Misstrauen schnell überwindet, um Freunde zu gewinnen. Ein gesunder Stolz verbietet ihm jede Bettelei und es gelingt ihm auch am Schluss, mit Hilfe von Sozialhelfern, wenn auch nicht ohne Rückfälle, sich dank der für den Kopfschuss erhaltenen Entschädigung in Millionenhöhe selbständig zu machen. Das unterscheidet ihn eindeutig von seinem ehemaligen Komplizen Jean Szabo, der in der Waldbilliger Verbrecherbande landete und dort umgebracht wurde.

Wie jede (Auto-)Biografie enthält auch diese sicherlich (re-)konstruierte Elemente. Nichtsdestoweniger ist sie ein überwältigendes Zeugnis für die zeitgenössische Sozialgeschichtsschreibung. Es war Gaston Schaber, Präsident des Comité national de défense sociale, der dem Autor empfohlen hatte, seine (Lebens-)Geschichte niederzuschreiben. Bei der Lektüre erfährt man nicht nur allgemein, wie die Luxemburger Gesellschaft in den 1980er und 1990er Jahren mit Außenseitern umging, sondern auch wie die Verantwortlichen von Erziehungsheimen, Haftanstalten, psychiatrischen Krankenhäusern usw. ihre „Kunden“ beherrschten, ihnen jede Information über die Gründe ihrer Einweisung bzw. Inhaftierung sowie über ihre Zukunft verweigerten. Als Leser erkennt man schnell, wie Feltgen immer wieder Menschen aus dem Milieu begegnet, die die gleiche Vergangenheit teilen, ein Beleg dafür, dass die sozialen Auffangstrukturen ganz offensichtlich weitgehend erfolglos sind und dieselben Biografien gebären.

Der Schluss des Buches hinterlässt bei mir einen unfertigen Eindruck. Romain Feltgen kann sich mit Hilfe des Comité national de défense sociale bzw. dem Verein Mathëllef aus der Misere ziehen, doch die Transaktionen um sein Haus in Ettelbrück, in dem er nun selbst junge, sozial benachteiligte Mitmenschen aufgenommen hat, bzw. um seine Wohnung in Bonneweg bleiben undurchsichtig. Hier hätte das Lektorat vielleicht noch ein bisschen nachhelfen sollen. Dessen Auswahl der teilweise bewusst mit Tippfehlern transkribierten, teils korrigierten Quellen hat sich mir auch nicht so recht erschlossen. Aus einem eingefügten Dokument des Fonds national de solidarité (das in der Erzählung selbst nicht erwähnt wird) geht hervor, dass dieser die Rückzahlung des RMG in Höhe von zunächst 6,2 Mio. LUF, dann 3,45 Mio. LUF (= 85.351,80 €) verlangt, sodass Feltgens Immobilien­besitz und damit sein ganzer Stolz, doch noch etwas erreicht zu haben, wieder in Frage gestellt wird. Die Forderung des FNS bildet sozusagen den krönenden Abschluss für die unsensible Vorgehensweise der Institutionen.

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