- Parteien, Wahlen2023
Hoffnung vermitteln in Krisenzeiten
Einführung ins Dossier
Seit 50 Jahren wissen wir, dass eine Klimakatastrophe droht und die Biodiversität schrumpft. Vor 20 Jahren gab Jean-Claude Juncker sein Versagen in Sachen Wohnungsnot zu. Seit einem Jahrzehnt wächst die Gefahr für immer mehr Einwohner:innen Luxemburgs, dass sie in die Armut abrutschen. In den letzten drei Jahren schien das Überleben der Menschheit von einem globalen Virus bedroht. Die Teuerungswelle infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ist auch noch nicht ausgestanden. Der unheildrohende Hintergrund, vor dem der aktuelle Wahlkampf stattfindet, ist gesetzt und bekannt.
Ziel des vorliegenden forum-Dossiers ist es, mit dem Finger auf jene Themen zu weisen, die die nächste Regierung unbedingt anpacken muss. Wir wollen unseren Leser:innen Argumente an die Hand geben, die sie mit den Parteiprogrammen vergleichen und mit denen sie ihre Wahlentscheidung treffen können. Den Vergleich mit den einzelnen Parteiprogrammen müssen sie allerdings selbst angehen: bis Redaktionsschluss Mitte August hatten selbst erfahrene Parteien ihre Wahlprogramme immer noch nicht veröffentlicht, so dass unsere Autor:innen sie in ihren Texten nicht berücksichtigen konnten. Wir haben neun Problemkreise ausgewählt, an deren Lösung die Wähler:innen unserer Einschätzung nach in der nahen Zukunft ganz besonders interessiert sein werden. Dabei handelt es sich um
- die demokratische Gestaltung des politischen Lebens und die Achtung der Menschenrechte,
- die Wohnungsnot,
- die zunehmende Armut und soziale Ungleichheit,
- die Steuerreform,
- die öffentliche Gesundheit,
- das Schulwesen,
- die Raumplanung,
- die Klimakrise,
- und die kulturelle Vielfalt.
Von zukunftsträchtiger Bedeutung sind auch die Europa-, Außen- und Kooperationspolitik, doch sie sind selten populäre Wahlthemen und werden wohl kaum wahlentscheidend sein. Die Rentenreform hingegen wäre ein weiteres wichtiges Thema für die nächsten Jahrzehnte. forum hat es allerdings in den Dossiers schon mehrmals behandelt (etwa in forum 178 im Sept. 1997).
Das im kommunalen Wahlkampf omnipräsente Thema der öffentlichen Sicherheit haben wir bewusst nicht zurückbehalten, nachdem schon am 30. Mai 2023 ein Leitartikel im Luxemburger Wort festhielt: „Der Sicherheitsdebatte fehlen echte Lösungen“. Gleichzeitig bedauerte der Autor, dass einzig und allein repressive Maßnahmen vorgeschlagen wurden und das Thema nach dem Wahlkampf aus der öffentlichen Debatte verschwinden werde.

Zur Behandlung der neun Themenfelder bat forum Fachleute aus der Zivilgesellschaft, die Problemlage und ihre Ursachen zu skizzieren und mögliche, konkrete Ansätze zu ihrer Lösung darzustellen. Dabei durften sich die Autor:innen mit den Vorschlägen der verschiedenen Parteien auseinandersetzen – mussten es aber nicht. Ihre Meinungen bleiben unkommentiert, doch zwei Zielkonflikte bilden sich heraus.
Komplexe Probleme erfordern manchmal komplexe Lösungen
Sowohl Klimaschutz als auch Naturschutz sind wichtig – und doch können die beiden Themen in Konflikt miteinander geraten. Ein Beispiel ist die vor kurzem restaurierte Sauermühle von Moersdorf, deren Eigentümer das Mühlrad mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung Rosport-Mompach eigentlich wieder in Betrieb nehmen wollte, um grünen Strom zu produzieren. Das Wasserwirtschaftsamt war dagegen, weil dadurch Fischbestände in Gefahr geraten würden. Dabei hätten die Fische keineswegs alle den Mühlenkanal benutzt, sondern hätten im Hauptfluss vorbeischwimmen können. Der Investor war sogar bereit, eine Turbine zu kaufen, in der Fische schadlos bleiben1.
Das Wasserwirtschaftsamt stellte hier den Naturschutz über den Klimaschutz. Derartige Konflikte gibt es bei fast jedem Windmühlenprojekt: Das Überleben der Fledermäuse und Rotmilane scheint punktuell wichtiger als die Produktion von erneuerbarem Strom. Dieser würde uns allerdings ein Stück weiter von fossilen Energieträgern aus undemokratischen Staaten unabhängig machen.
Auch in der Wohnungspolitik gibt es solche Zielkonflikte: Die Wohnungssuchenden haben weniger Rechte als die Wohnungseigentümer:innen2. An diesem Interessenkonflikt scheiterte die Politik von Wohnungsbauminister Henri Kox weitgehend, weil jede Einschränkung der Eigentumsrechte zugunsten der Mietkandidat:innen – etwa durch Mietendeckelungen – zu einem Rückgang der privaten Investitionen in den Wohnungsbau führt.
Es liegt an den Wähler:innen, solche Grundsatzfragen zu entscheiden, vorausgesetzt, die Wahlprogramme der Parteien bieten entsprechende Alternativen. Angesichts der Mehrfachkrisen, denen wir – zum großen Teil selbstverschuldet – seit etlichen Jahren ausgesetzt sind, müssen sich die Parteien zusammenreißen und den Menschen ernsthafte Perspektiven bieten. Nur so lassen sich weitere Erfolge rechter Populist:innen verhindern, die vermeintlich einfache Lösungen für hochkomplexe Probleme anbieten. Hoffnung geben könnte eine Strategie, nach der die vier großen Parteien es ihren Jugendparteien3 nachmachen und für die Fragen der Klimakrise, der Armutsfalle und der Wohnungsnot gemeinsame Lösungen vorschlagen und auf Polemik verzichten.
Ein solcher Konsens zwischen den wichtigsten Parteien in Sachen Klima- und Wohnungsbaupolitik wäre ein klarer Weckruf für jene, die noch an der Klimakrise zweifeln, und ein echtes Hoffnungszeichen für jene, die angesichts der vielen bislang leeren Versprechen frustriert sind und rechtspopulistischen Chimären nachlaufen.
Dass es auf die Stimme möglichst aller Luxemburger:innen über 18 Jahren ankommt, haben die Gemeindewahlen mit letzter Klarheit gezeigt. In Esch an der Alzette trennten 36 Kreuze das Ergebnis der CSV von jenem der LSAP: das sind weniger als zwei Wähler:innen, die in Esch 19 Einzelstimmen zu vergeben hatten. In der Hauptstadt lagen die Dritt- und der Fünftgewählte 26 Stimmen auseinander. Zwölf Wähler:innen hätten das Wahlresultat zumindest innerhalb der LSAP-Liste auf den Kopf stellen können, wenn sie je zwei Kreuze hinter andere Namen gesetzt hätten. In der Hauptstadt waren im Juni rund 2900 Wähler:innen nicht zur Wahl gegangen oder hatten ihren Wahlzettel unvollständig abgegeben; in Esch an der Alzette waren es knapp 1200, die fehlten. Wenn alle Wahlberechtigten ihr Wahlrecht voll ausüben, „kënne se net maache wat se wëllen“, wie der häufigste Vorwurf der Vox populi an die Politiker:innen lautet.
1 Volker Bingenheimer, „Mühlenbesitzer will Strom erzeugen – und verzweifelt an Bürokratie“, in: Luxemburger Wort vom 20. Juni 2023.
2 Michel Pauly, „Une Constitution entre lutte des classes et nationalisme“, in: forum 425 von Mai 2022, S. 15-17.
3 Siehe gemeinsame Mitteilungen der CSV-Jugend, der Jonk Demokraten, der Jonk Sozialisten und der Jonk Gréng zur Wohnungsnot, zum Einwohnerwahlrecht und zur Abschaffung der Doppelmandate.
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