„Ich glaube, wir sind hier,um zusammen zu sein.“

Warum Gesellschaft nicht Gemeinschaft ist

Der zitierte Titelsatz steht für ein Ereignis, das Geschichte schrieb: Das Gemeinsamkeitsgefühl von Woodstock 1969. Dass diese Zusammenkunft heute stark romantisiert scheint, kommt nicht von irgendwo – eine Schande, denn in der intrinsischen Energie des woodstock‘schen Beisammenseins versteckt sich ein Schlüsselmoment des Miteinanders.

Der Mensch als „zoon politikon“, wie Aristoteles ihn einst nannte, ist ein soziales Wesen. „Sozial“ ist etymologisch auf das lateinische „socius“ zurückzuführen, das „in Verbindung stehend, teilnehmend, zugesellt“ meint. Bei den 8 Milliarden Erdbewohnern ist es auch recht naheliegend, dass man sich begegnet, Raum teilt, dass man in Bezug steht. Zu was? Diese Frage beschäftigt die Philosophie seit jeher. Sagen wir, wir sind alle Teilnehmende des großen Ganzen. Das ergibt, dass die Menschen auch untereinander ein verbindendes Moment teilen. Was dieses große Ganze ist, zu dem wir Bezug haben, steht heute nicht im Fokus, sondern wie wir dies tun. Sind wir uns bewusst, dass wir als Gesellschaft etwas Existenzielles gemein haben? Ist dieses Gemeinsame etwas, das wir spüren und leben – oder ist dies nicht prioritär, und die Gesellschaft strebt nach ganz anderem?

Die Idee des harmonischen Miteinanders ist ein schönes Ideal, nice to have, eine Utopie. Doch das Miteinander scheint eher abgekühlt, es ist ein Nebeneinander. Dabei meine ich weniger die im Krieg stehenden Völker, sondern mehr die all­tägliche Ungeselligkeit. Auf dem Weg zur Arbeit ist es oft stressig, so viele Leute, Ärger im Verkehr. Dazu kommt ein erheblicher Leistungsdruck, bei dem ich mich gegen meine Mitstreiter behaupten muss. Reichen meine Kompetenzen aus, um Business machen zu können? Um mehr zu verdienen? Kriege ich am Ende das, was ich mir erträumt habe? Denkt man an den spürbaren Unwillen, sozialen Grundsatzfragen mehr Beachtung zu schenken, vielleicht aus Angst, von dem großen Kuchen etwas abgeben zu müssen, spürt man das Unbehagen in führenden Gesellschaftsschichten.

Der Philosoph Charles Taylor erklärt dies mit dem Individualisierungsprogramm der Moderne, das das Selbstverständnis unserer lebensweltlichen Sozialität prägt. Die bürgerliche Gesellschaft, ergänzt der Sozialphilosoph Tönnies, zeichnet sich gar vorwiegend durch ökonomische Kalküle aus. Gesellschaft bedeutet für ihn ein politisch, rechtlich und ökonomisch geregelter Zusammenhang, bei dem sachliche Beziehungen oder Leistungstausch stattfinden. Das auch unter Fremden oder Feinden. Es ist ein zweckdienlicher, rein rationaler Zusammenschluss. Unweigerlich entsteht Nähe zu Anderen, aber die ist nicht immer freiwillig gewählt. Sie wird bejaht, aber wegen des äußeren Zweckes. Dieses Räsonnement, bei dem das Erreichen eines Ziels, und sei es bloßer Wohlstand, im Vordergrund steht, belustigt sich über jene Wertvorstellung, die im Zusammensein des Menschen eine Bestimmung sieht.

Diese „Überindividualisierung“ kommt dabei nicht von irgendwo: Mit der Aufklärungsbewegung im 18. Jahrhundert wurden der Mensch und sein Potenzial zum Zentrum des Geschehens. Mit dem Verweis auf die Vernünftigkeit des Einzelnen und der Wissenschafts- und Industriefähigkeit wurde das Ich als Angelpunkt der Freiheit gekürt – dass es somit auch an dem Ich lag, sein Glück in die Hand zu nehmen und etwas aus sich zu machen, knüpfte gut an die Ansicht an, dass man sich nur ordentlich anstrengen müsste, um es im Leben zu etwas zu bringen. Dieses ökonomische Zweckdenken macht das Dasein zu einem Kampf, bei dem die Mitwirkenden potenziell konkurrieren oder praktische Mittel darstellen. – Das klingt sehr nach einem westlichen Narrativ, finden Sie nicht?

Anders geht es zum Beispiel in Japan zu, wo das Prinzip des „Sumimasen“ das gesellschaftliche Leben prägt. Die Bevölkerung hat sich darauf geeinigt, dass stete Rücksichtnahme unter allen Bewohnern das oberste Motto ist. Das Kollektiv ist dabei wichtiger als persönliche Bedürfnisse, niemand will den anderen belästigen oder sich aufdrängen. Laut in der Tram telefonieren? Jemandem die Vorfahrt nehmen? Ein No-Go. Es ist generell eine defensive Haltung, dank der eine gesellschaftliche Harmonie gewahrt werden soll: Es tut anscheinend fast leid, dass man das Gegenüber mit seiner Präsenz behelligt. In Japan funktioniert das ausgesprochen gut, doch könnten wir im Westen es aushalten, dass es einmal nicht um uns persönlich geht? Dass es nicht darum geht, Besitz zu schaffen und zu sichern? Könnte es sein, dass wir uns dadurch verschließen, verhärten, kalt und überrational werden? Andererseits ist das japanische „Sumimasen“ dann vielleicht auch ein wenig kühl – wo ist die Emotion?

Vielleicht lohnt es sich, Gesellschaft mit Gemeinschaft zu kontrastieren: Tönnies definiert Gemeinschaft als ein Zusammenleben, das auf dem eingangs erwähnten Verhältnis des Gemein-samen, des Verbindenden beruht. Das kann eine Verbindung durch Abstammung oder Nachbarschaft sein, aber auch die einer geistigen Nähe – einer Gesinnung oder Idee. Die Gemeinsamkeit wird hier durch den eigenen Willen geschaffen, etwas Gemeinsames zu erreichen. Das ist eine Ausrichtung an einer inneren, psychologischen Bedingtheit: an Werten und inneren Vorstellungen. Die Bejahung erfolgt demnach nicht aufgrund von kalkuliertem Zweck, sondern anhand intrinsischer Gefühle wie Liebe, Zuneigung, Identifikation. So tut sich ein Bezug zueinander auf, der das „Zusammen“ nährt: zusammengehören, zusammenfinden – ein bewusstes Zusammensein und -arbeiten.

In seinem 2016 erschienen Werk Resonanz beschreibt Hartmut Rosa diesen Bezug zueinander als die Grundlage des in der Welt Seins. Nur wer qualitative Beziehungen zu Mitmenschen, zur Umwelt, auch zu Ideen hat, bringt es fertig, mit der Welt in Resonanz zu treten. Dies ist dabei keine einseitige Geistes­haltung: Um resonieren zu können, braucht es ein wechselseitiges Antwortphänomen. Das Gefühl, selbstwirksam zu sein, beruht eben nicht nur auf der Autonomie und dem Durchsetzungsvermögen des Subjekts, sondern auch auf der Wirkung, die es loslöst. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich mit meinen Begegnungen interagiere, dass ich eine wertvolle Verbindung zu jemandem pflege, lädt sich das Verhältnis zwischen mir und dem Anderen positiv auf. Das beschreibt eine ganz interessante Wechsel­wirkung, die das Gemeinsame der Menschen unterstreicht: Wenn die Welt mich berührt und ich die Welt berühren kann, dann bringt mich das ins Schwingen, ein vitaler Elan stellt sich ein. Wie zwei Stimmgabeln können sich Menschen unter­einander in Schwingung versetzen! Dafür braucht es, ganz klar, Offenheit und Zeit. Und die sieht Rosa in Gefahr, in einer von Stress geplagten Epoche von multiplen Krisenherden, repressivem Konkurrenzdenken und ganz viel Bildschirmzeit.

Die Gemeinsamkeit wird hier durch den
eigenen Willen geschaffen,
etwas Gemeinsames zu erreichen.

Es besteht aber nach wie vor ein Verlangen nach Resonanz im Zusammenleben. Denken Sie nur an das überwältigende Gefühl, wenn Sie mit vielen Menschen ein großartiges Konzert hören, oder wenn im Fußballstadion die Emotionen ganzer Fanblöcke überschwappen. In diesen Momenten erlebt man das Antworten der Umwelt ganz intensiv. 

Die Sehnsucht danach zeigt sich auch in alltäglichen Episoden, besonders bei grundlegenden sozialen Prozessen. Wenn ich etwa meine Stimme abgebe und nicht das Gefühl habe, dass sie gehört wird, dass sie etwas bewirken kann, dann bröselt die Verbindung zwischen mir und der politischen Institution. Die soziale Gestaltung ist auf Resonanzen bis ins Tiefste angewiesen. Wenn die politischen Prozesse abstrakt und versteinert empfunden werden, dann erschwert das meinen Bezug zu ihnen vollends. Die Selbstwirksamkeitserwartung des Einzelnen ist auf eine Antwort der Welt angewiesen; es braucht eine Gemeinschaft, in der Ideen diskutiert und hinterfragt, ausgetauscht und entwickelt werden können. Erst, wenn die Stimmen untereinander tatsächlich Gehör finden und Beziehungen entstehen, in denen der zeitaufwendige Prozess des Zusammenlebens und -wirkens erlaubt ist, dann kommen wir weg von einer gesellschaftlichen Verdrossenheit hin zu einer motivierenden Vision, die uns zum Schwingen bringt.

Um ein Beispiel Rosas zu nennen: Sie können so viel Geld haben, wie Sie wollen, wenn Sie keine wechselwirkenden Beziehungen in Familie, Freunden oder der Umwelt erleben, dann geht es Ihnen nicht gut. Im Umkehrschluss brauchen qualitative Beziehungen kein Kapital, sie geben von sich aus Halt. Daher wäre es sinnvoll, die Gesellschaftslage nicht anhand von materiellen Vermögen einzuschätzen, sondern den Wert des Gemeinsamen hoch zu halten. – Da sind wir natürlich noch lange nicht, doch was wäre das Leben ein trostloses, wenn es nicht stets aus Wechselwirkung und Prozess bestünde…  


Nora Schleich ist in der Philosophievermittlung tätig. Nachdem sie in Mainz zu Immanuel Kant promovierte, arbeitet sie freiberuflich in Luxemburg. Sie beschäftigt sich mit Fragen zu Kultur und Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Wissenschaft, und interessiert sich für die existenziellen Probleme und Phänomene, die sich aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Lebenswelt ergeben.

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