- Geschichte, Gesellschaft, Politik
Karl Marx für den Westen
Einleitung ins Dossier
Im LW-Leitartikel vom 12. Februar 2019 bezeichnete die Journalistin Annette Welsch die Forderungen des OGBL im Hinblick auf die kommenden Sozialwahlen als „klassenkämpferisch“ und bezweifelte, dass diese Töne Früchte tragen würden. Der Satz ist in zweifacher Hinsicht interessant und verräterisch. Der Begriff ‚Klassenkampf‘ stammt von Karl Marx. Dieser bezeichnete damit aber nicht nur den Aufstand des Proletariats gegen die Bourgeoisie, sondern auch die von der Bourgeoisie ausgeübte Unterdrückung der arbeitenden Massen. Ich kann mich nicht erinnern, dass im konservativen Luxemburger Wort der Begriff je in diesem Sinne gebraucht wurde. Damit zeigt sich, dass Marx zwar noch aktuell ist, aber eher als Schreckgespenst denn als Analysekategorie. Und andererseits, dass seine Begrifflichkeiten als nur halb verstandene Vokabel in den Köpfen etlicher Zeitgenossen herumschwirren. Es lohnt sich also, nochmals genauer hinzuschauen, was es mit Karl Marx auf sich hat.
forum hatte 2018 die Gelegenheit verpasst, zum Anlass des 200. Geburtsjahres Karl Marx’ dem Trierer Bürgersohn ein Dossier zu widmen. Das holen wir 2019, 99 Jahre vor dem 300. Geburtstag, nach, womit forum seiner Zeit wieder einmal ein gutes Stück voraus ist… Alle hier vereinten Beiträge haben eins gemeinsam: Sie sind sich bewusst, dass Marx’ Philosophie und Anleitung zum Handeln durchaus noch aktuell sind und sich eine Auseinandersetzung mit ihnen lohnt. Das beginnt mit keinem geringeren als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der uns seine anlässlich der offiziellen Marx-Geburtstagsfeier am 4. Mai 2019 in Trier gehaltene Rede zur Verfügung stellte. Darin nimmt er Marx ausdrücklich vor den Anschuldigungen in Schutz, die etliche seiner Epigonen durchaus treffen mögen. André Hoffmann, ehemaliger Abgeordneter von Déi Lénk, erklärt, welche Analysekategorien Marx uns zur Verfügung stellt, um die weltweite Finanzkrise von 2008 zu verstehen; gleichzeitig stellt er aber Marx’ deterministische Sicht auf das sichere Ende des Kapitalismus in Frage. Raymond Klein vergleicht Karl Marx mit Jeremy Rifkin: Ersterer reagierte auf die Erste Industrielle Revolution, letzterer will die dritte herbeiführen; während Marx dem Kapitalismus mittels Klassenkämpfen ein Ende setzen möchte, will Rifkin (so wie Juncker) ihn durch Zusammenarbeit zähmen, weil die technologische Entwicklung der Produktivkräfte heute zur Emanzipation der Arbeitnehmer führe.
Den Begriff „Arbeitnehmer“ lehnt KPL-Präsident Ali Ruckert ab und will nur „Lohnabhängige“ gelten lassen, da „Proletariat“ auch nicht mehr in ist. Im Interview bekennt er sich als Marxist der alten Schule, der aber zu Recht darauf hinweist, dass Marx nicht nur die Ausbeutung der Menschen, sondern auch die Ausbeutung der Natur angeprangert hat. Dem Verhältnis von Marx und Natur bzw. der Frage, was Marx für die ökologische Bewegung bringen kann, wollte die forum-Redaktion einen eigenen Beitrag widmen, doch der dafür angesprochene Fachmann musste aus Zeitgründen absagen.
Dass Religion nicht nur „Opium des Volkes“ ist, wie Marx einst schrieb, Marx’ Gesellschaftsanalyse hingegen großen Einfluss selbst auf Teile der katholischen Kirche hatte, zeigt Jean-Marie Weber in seinem Beitrag, der einen Bogen spannt von Lamennais und Ketteler bis zur südamerikanischen Befreiungstheologie und… zu forum. Dass man Karl Marx auch heute noch missverstehen bzw. den Zugang zu ihm eher erschweren als erleichtern kann, beschreibt Viviane Thill in ihrer Filmkritik von „Le jeune Karl Marx“ des haitianischen Regisseurs Raoul Peck. Wie bedeutend Karl Marx noch heute ist, zeigt nicht zuletzt der Beitrag von Christian Jansen, der die wissenschaftliche Bilanz der Trierer Marx-Gedenkfeiern und -kongresse zieht, die zum selben Schluss kommen wie Jean-Claude Juncker: Man muss das Marx-Bild von den durch Lenin, Stalin und Mao bedingten Lesarten entrümpeln, ihn historisieren und kontextualisieren, um Marx dem Westen wiederzugeben.
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