Kirche am Scheideweg

Einführung ins Dossier

Als kleiner Junge wuchs ich in einer praktizierenden katholischen Familie auf. Ich wurde in der sehr lebendigen Pfarrei Limpertsberg katholisch sozialisiert und lernte 1966 bei der Studentenmission, die aus Anlass des marianischen Jubiläums organisiert wurde, über meinen Glauben zu reflektieren. 1972 wurde ich Mitglied der Jugendpor, wo die Verbindung von Liturgie und gesellschaftspolitischem Engagement dem gängigen Ritualismus und katholischen Machterhalt entgegengesetzt wurden, was unter anderem zum Entstehen der vorliegenden Zeitschrift führte.

Als ich Ende der 1970er Jahre als Geschichtslehrer mit meinen Schülerinnen und Schülern auch die religiöse Vergangenheit der westlichen Zivilisation und ihre dunklen Seiten behandelte, merkte ich, dass immer weniger junge Menschen mit Begriffen wie Bischof, Kardinal, Ordens­klerus, Sakrament u. ä. etwas anzufangen wussten. Die katholische Sozialisation erfasste nicht mehr die gesamte Luxemburger Gesellschaft. Während der soziale Druck es mir als Kind unmöglich gemacht hätte, etwa die Oktavprozession zu schwän­zen, geht heute der soziale Druck in die andere Richtung: Heute werden Menschen, die sich offen zu ihrem Glauben bekennen, ganz gleich welcher Religion, als Exoten angesehen. Religiöse Abstinenz, wenn nicht antiklerikale Aggressivität ist zum Mainstream geworden.

Kirche ohne Volk

Diesen Trend hatte der Soziologe André Heiderscheid schon in seiner 1961 veröffentlichten Dissertation zur religiösen Soziologie der Diözese Luxemburg vorausgesehen. Trotzdem – oder gerade deswegen – flüchteten er als Direktor des Luxemburger Worts und die Leitung der Diözese in eine Wagenburg-Mentalität: Sie versuchten hartnäckig Besitzstand und Privilegien der katholischen Kirche gegen die antiklerikalen Anfeindungen zu verteidigen. Die sich auf die befreiende Botschaft Jesu berufende Jugendpor, die etwa „eng aarm Kierch an enger räicher Gesellschaft“ forderte, oder die Synodenkommission 4, die unter Federführung von Pfarrer Jupp Wagner die Kirche aufforderte, wie in der Urkirche kleine Gemeinschaften von überzeugten Christen und Christinnen zu bilden statt Territorialpfarreien mit Karteikatholiken und -katholikinnen, waren diesen Männern ein Dorn im Auge. Zählungen, wie viele Menschen noch der Sonntagsmesse beiwohnten, wurden lieber eingestellt, weil die Wahrheit zu grausam gewesen wäre. Die Jugendpor und viele andere, die noch Jahre später ein Umdenken forderten, wurden vom Luxemburger Wort totgeschwiegen, wenn nicht als „Totengräber des Christentums“ öffentlich gebrandmarkt, während Jupp Wagner seines Amtes enthoben wurde, weil er keine feierliche Erstkommunion mehr organisierte für Kinder, deren Eltern ohnehin nicht zur Kirche gingen. Doch es half nichts. Der katholische Block aus CSV, Luxemburger Wort, LCGB, Teilen der Katholischen Aktion und Teilen der Bistumsleitung zerbröckelte, erhielt bei den Wahlen von 1974 einen ersten Denkzettel, der aber noch einmal zu einem Aufbäumen der reaktionären Kräfte im Luxemburger Wort führte. Bei den Wahlen von 2013 und 2018 aber zeigte sich, dass der Trend weg vom politischen Katholizismus definitiv nicht mehr aufzuhalten ist. Die Religion hat in Luxemburg ihre Rolle als politischer und sozialer Identitätsfaktor ausgespielt. Der Missbrauchsskandal raubte der Kirche schließlich den Rest an Glaubwürdigkeit. Anstatt dass die Kirche freiwillig, der Botschaft Jesu getreu, auf ihre Privilegien verzichtet hätte, wurden sie ihr nun von politischer Seite weggenommen: keine staatlichen Gehälter mehr für Kultusdiener, kein Religionsunterricht mehr in den öffentlichen Schulen, keine kommunalen Gelder mehr für den Unterhalt der Kirchengebäude, selbst wenn sie zum kulturellen Erbe des Dorfes oder des Landes gehören, keine kostenlose Wohnung mehr für die Pfarrer bzw. die Laien, die sie ersetzen, keine Staatsfeiern mehr in Kirchenräumen bzw. mit priesterlichem Segen. Erzbischof Jean-Claude Hollerich erkannte in diesen neuen Arbeitsbedingungen immerhin auch eine neu gewonnene Freiheit und die Chance zur Rückbesinnung auf das Wesentliche.

Kirche ohne Macht

Die laizistischen Initiatoren dieser Maßnahmen triumphieren: Sie hätten, so ihre Sichtweise, der Kirche endlich ihre Macht entzogen. Aber auch sie irren. Die Kirche hatte ihre Macht längst verloren. Sie hofften, damit auch der CSV ihre Machtbasis zu entziehen, aber die Kirche hat längst keinen Einfluss mehr auf das Wählerverhalten. Die Luxemburger Kirche war auch nie reich. Reich waren und sind etliche Kongregationen und Pfarreien, dank großzügiger Schenkungen vor allem aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die sie geschickt zu verwalten wussten, weil sie von Vertretern der Bourgeoisie beraten wurden. Gut leben konnten bislang auch die vom Staat besoldeten Kleriker und die wegen des Priestermangels auf ihren Stellen wirkenden Laien. Wirtschaftlich erfolgreich war auch bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Unternehmen St. Paulus-Druckerei und -Verlag, dessen Gewinne die Kirche bis dahin über Wasser hielten. Doch das Bistum Luxemburg, dem der Staat erst 1981 die Rechtspersönlichkeit zuerkannte, hatte kaum Einnahmen. Die Kunstschätze, die ohne Zweifel in etlichen Kirchen zu bewundern sind, sind nicht monetär nutzbar. Die Kirche Luxemburgs leidet im Gegenteil unter einer Reihe struktureller Schwächen, die z. T. aus der geschilderten Vergangenheit heraus zu erklären sind. Es fehlt ihr an finanziellen Ressourcen, um die nun auf sie zukommende Besoldung ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sicher zu stellen. Es fehlt ihr an Personal – aber das hängt auch an einem der Zeit nicht mehr angepassten Rollenverständnis auf der Ebene der Weltkirche (Ausschluss von Menschen mit dem „falschen“ Chromosom aus allen Funktionen, die die Spendung von Sakramenten beinhalten). Es fehlt gerade in Luxemburg an Theologen und Theologinnen, die dieser Kirche helfen würden, ihre irdische Lage im Licht des Glaubens zu reflektieren, denn die Luxembourg School of Religion and Society erfüllt diese Rolle als innerkirchliche, kritische Instanz (noch) nicht. Und es fehlt an einer offenen Gesprächskultur, einem synodalen Denken, das den sensus fidelium, das Vertrauen auf die Glaubenserfahrung aller Kirchenmitglieder, ernst nimmt. Das hierarchische Denken, der Gehorsam gegenüber dem Klerus ist immer noch tief verwurzelt. Daran dürfte sogar die Abschaffung des Pflichtzölibats nichts ändern.

Das forum-Dossier

Die Geschichte des Bistums Luxemburg, auf die das forum-Dossier zurückkommt, ist eine Geschichte von Aufstieg, Verknöcherung und Implosion. Seine Zukunft hängt von der Ernsthaftigkeit ab, mit der die Kirche zu ihren im Evangelium niedergeschriebenen Aufgaben zurückfindet. Immerhin hat sie bei der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale vor Ort gezeigt, dass sie kann, wenn sie will. 1977 kommt Jean Delumeau in seinem Buch Le christianisme va-t-il mourir? zu folgendem Schluss: „Parce que la christianisation en pays dits de ,chrétienté‘ n’avait jamais été complète et ne pouvait pas l’être ; parce qu’elle a toujours rencontré des résistances ; parce que le christianisme officiel a trahi l’Evangile en devenant pouvoir ; parce que la Bonne Nouvelle de libération était devenue menace et contrainte ; la déchristianisation actuelle – affaire certes sérieuse et grave – ne doit pas constituer pour les chrétiens un motif de découragement. Elle représente plutôt un retour au bon sens et à ce qui est normal du point de vue de l’Evangile. Et elle sera un bien si, grâce à elle, la Parole de salut est désormais présentée dans l’humilité, la pauvreté et la charité à des gens libres de la refuser.“1

Georges Hellinghausen beleuchtet in seinem Rückblick die Stärken und Schwächen in der 150-jährigen Geschichte der Luxemburger Diözese. (Auf seine jüngst erschienene, kritische Diözesangeschichte geht eine Rezension auf S. 81 ein.) Demgegenüber war es der Wunsch der forum-Redaktion, der Frage nachzugehen: Hat diese Kirche noch eine Zukunftschance? Darauf antworten Gérard Kieffer, der von der Aufbruchsstimmung im Dekanat Ospern im stillen Westen des Landes berichtet, wo Laien die vielfältigen Aufgaben der Priester übernommen haben, Pit Péporté, der von einer ganzen Reihe informeller Gemeinschaften erzählt, die ihr Christentum auch ohne rituelle Liturgie feiern, Uwe Franzen, der kirchliche Initiativen im Bereich der Jugendpastoral vorstellt, Theo Péporté, der seinen Zukunftswunsch literarisch umsetzt, Jean-Marie Weber, der von der not-wendigen Wandlung der Kirche spricht, Jean-Paul Lehners, der anhand einer Buchbesprechung eher auf weltkirchlicher Ebene argumentiert und außerdem sein ganz persönliches Glaubensbekenntnis beisteuert, während Marie-Christine Ries sich über die Diskriminierung der Frau in der Kirche ärgert, wo doch Frauen die ersten Zeuginnen der Auferstehung Christi, der zentralen Botschaft des Evangeliums, waren. Alle genannten Autoren und die Autorin greifen auf ihre eigene Lebensgeschichte zurück. Das dürfte kein Zufall sein. Über Glauben lässt sich nur personal reden, nicht in theologischen oder philosophischen Denkgebäuden. Alle üben aber auch direkt oder implizit Kritik an der Amtskirche, die mit ihrem dogmatischen Denken und ihren hierarchischen Strukturen häufig dem lebendigen Glaubensvollzug im Wege steht. Die Ausgrenzung der Frau von Weiheämtern ist dafür nur ein Beispiel, das mittlerweile ja selbst von einer Reihe von Bischöfen für obsolet gehalten wird. Es ist bekannt, dass es auch in der Luxemburger Diözese integristische katholische Gruppierungen gibt, u. a. Ableger des von Johannes Paul II. geförderten Geheimbundes Opus Dei oder die sogenannten Europa-Pfadfinder; doch es fand sich kein kompetenter Autor und keine Autorin, um darüber zu schreiben. Es fehlt auch ein Beitrag über das Engagement vieler kirchlicher Gruppierungen und Instanzen auf sozialem Gebiet, etwa in der Flüchtlingsarbeit oder der Entwicklungshilfe; weil forum öfters auf deren Mitarbeit zurückgreift, dürften diese Initiativen den Leserinnen und Lesern aber bekannt sein. Ein Beitrag über die sehr ungewisse Zukunft vieler Kirchengebäude, sowohl was ihre Umnutzung als auch was den Erhalt der Bausubstanz anbelangt, der wegen ideologischer Verblendung den Gemeinden verboten wurde und dem Kirchenfond finanziell nicht möglich ist, fiel leider kurzfristig aus. Hingegen konnten wir in letzter Minute noch einen Beitrag von Christian Motsch sj zum Angebot der Kirche in Zeiten einer Pandemie aufnehmen.

forum wäre nicht forum, wenn die Redaktion in einem solchen Dossier nicht auch Außenansichten auf die Kirche bieten würde. So stellt Paul Rauchs aus atheistischer und psychiatrischer Warte noch einmal die Frage nach dem Nutzen von Glaube und Kirche, während Viviane Thill im dritten Teil dieses Heftes eine Reihe von Filmen vorstellt, die den Atheismus thematisieren.

PS: Der nach Redaktionsschluss bekannt gewordene Verkauf des Sankt-Paulus-Verlags ist in gewisser Hinsicht der logische Schlussstein der dargestellten Entwicklung: Damit verzichtet die Erzdiözese demonstrativ auf jeden Machtanspruch, auf die Indienstnahme kapitalistischer Mittel zur Beeinflussung der Gesellschaft. Die ihr verbleibenden Geldmittel sollen in Zukunft nur pastoralen Zwecken dienen, nicht mehr politischen. Die Verschränkung von Kirche, Zeitung und Partei findet ihr endgültiges Ende.

  1. Jean Delumeau, Le christianisme va-t-il mourir?, Paris, Hachette, 1977, S. 173; vgl. Michel Pauly, „Le christianisme va-t-il mourir? Propos autour d’un live de Jean Delumeau“, in: forum 18, 15. Oktober 1977, S. 1-4.

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