Plädoyer für eine Reform des Luxemburger Geschichtsunterrichts

Am 3. Mai 2019 hatte die Commission nationale des programmes en histoire (CNPHist) des klassischen Sekundarunterrichts zu einem Studientag nach Walferdingen eingeladen, um über Ziele und Ausrichtung des Geschichtsunterrichts nachzudenken. Dabei plädierte der Autor dieses Beitrags für einen auf Luxemburg zentrierten Geschichtsunterricht.

„Wir wussten bald schon“, so Nico Helminger in einem Essay aus dem Jahr 2014, „dass Deutsch und Französisch sehr unterschiedliche, aber große Sprachen waren, die man unbedingt lernen musste. Was aber war mit den Worten, mit/in denen wir aufgewachsenen waren?“1 Ich selbst schrieb in forum 388: „Mir hunn d’Impressioun, dass dat feelend Selbstwäertgefill, dee permanente Mannerwäertegkeetskomplex ee vun den Haaptproblemer vun der Lëtzebuerger Gesellschaft ass, deen elo ënnert dem Drock vun der Globaliséierung, vun den offene Grenzen, vun der deeglecher Migratioun ëmmer méi Leit a Panik fale léist. An dovu profitéiere gär gewësse nationalistesch Kreeser fir politesche Gewënn doraus ze zéien.“2

Emanzipation vom Minderwertigkeitsgefühl

Umso wichtiger ist es, auch auf die Indizien hinzuweisen, die auf einen in Luxemburg stattfindenden Emanzipationsprozess von diesem Minderwertigkeitsgefühl hindeuten. 1987 gab sich das Land ein erstes Gesetz zur Organisation wissenschaftlicher Forschung, 1995 wurde ein nationales Literaturarchiv in Mersch installiert, 1999 wurde ein nationaler Forschungsfond geschaffen, 2003 eine Universität gegründet, 2018 gab sich die Regierung eine Strategie zur Förderung des Luxemburgischen, und im selben Jahr wurde erstmals ein Archivgesetz verabschiedet: Institutionen, die in vielen europäischen Nationalstaaten zum Teil seit dem 19. Jahrhundert bestehen oder gar noch älter sind, wurden an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auch in Luxemburg für notwendig erachtet.

Ich bin der Meinung, dass es in diesem Sinne höchste Zeit wird, einen eigenen Geschichtsunterricht auf die Beine zu stellen, der von Beispielen der Luxemburger Geschichte ausgeht, um national wie international relevante historische Prozesse zu beleuchten, und der nicht mehr von deutschen oder französischen Schulbüchern abhängig ist. Warum lernen Luxemburgs Schüler*innen Köln als römische Stadt kennen und nicht Dalheim? Warum müssen sie für ihr Abitur Kenntnisse über den Kalten Krieg erwerben, ohne Bezüge zur „Zerstörung“ der sowjetischen Botschaft in Beggen im Jahr 1956 und die antikommunistische Hetze im Luxemburger Wort herzustellen? Auch die Verteufelung der Luxemburger Friedensbewegung in den 1980er Jahren wird im Schulunterricht nicht thematisiert.

Eine metanationale Perspektive

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Geschichte Luxemburgs soll nicht als Nabelschau betrieben werden, es soll kein „roman national“ geschrieben werden, es geht nicht darum, die Schüler*innen zu treuen Patriot*innen zu erziehen. Luxemburgische Geschichte kann nur in einer metanationalen Perspektive unterrichtet werden, eingebettet in den europäischen und internationalen Kontext.3 Sie muss wie jede Geschichtsdarstellung als Konstrukt hinterfragt werden. Unter Luxemburg soll deshalb auch nicht der heutige Nationalstaat verstanden werden, der 1815/1839 von den damaligen Großmächten geschaffen wurde, sondern der soziale Raum, in dem das heutige Großherzogtum liegt, der aber je nach Epoche unterschiedliche geografische Konfigurationen annahm und keineswegs durchgehend den heutigen Namen trug.

Die Gründe für diese Reorientierung des Geschichtsunterrichts sind m. E. zum Teil gesellschaftspolitischer Natur, zum Teil auch pädagogisch zu rechtfertigen. Der nicht nur in Luxemburg wieder aufkommende Nationalismus ist bei uns zum Teil auf das erwähnte Minderwertigkeitsgefühl zurückzuführen. Es generiert Existenzängste und erschwert die Begegnung mit dem Anderen, mit dem Fremden. Die Ängste werden von gewissen politischen Kräften bewusst geschürt, indem sie immer wieder die sogenannte Identitätsfrage aufwerfen. Dem ist mit rationalen Argumenten nur schwer beizukommen, weil hier die emotionale Ebene angesprochen wird. Daher muss der Geschichtsunterricht (wie auch der Literatur-, der Kunst- oder der Geografieunterricht) dazu beitragen, das kulturelle Selbstwertgefühl der jungen Menschen in Luxemburg zu stärken, bevor sie mit dem Fremden bzw. mit nationalistischen Engführungen konfrontiert werden.

Dabei geht es nicht um eine Aufwertung der Rolle Luxemburgs in der Vergangenheit, sondern um eine nüchterne Darstellung der Geschichte dieses Raums, der von der Vor- und Frühgeschichte an von kulturellen Strömungen erfasst wurde, die zur Konstituierung seiner heutigen Eigenart beitrugen. Es geht darum zu zeigen, dass der Raum sich nie allein auf sich bezogen entwickelt hat, sondern je nach Epoche und je nach Lebensbereich immer Teil größerer Entitäten war, sei es der Bandkeramikkultur oder des gallo-römischen Akkulturationsraums oder des römisch-deutschen Reiches oder der habsburgischen Niederlande oder des deutschen Zollvereins oder der moselfränkischen Sprachgemeinschaft und so weiter und so fort.

Ein solcher auf den Luxemburger Sozialraum bezogener Geschichtsunterricht kann alle wichtigen Entwicklungen der europäischen Geschichte und gar der Weltgeschichte einbeziehen: die vorgeschichtlichen Migrationen aus dem Nahen Osten nach Europa anhand der Leichen von Reuland-Loschbur, die Christianisierung Europas am Beispiel Willibrords, die Begegnung mit dem Islam in den Kreuzzügen, die Entstehung des europäischen Städtewesens im Mittelalter, den Krieg um die europäische Hegemonie anhand des 30jährigen Kriegs und der Eroberungszüge Ludwigs XIV., den Imperialismus am Beispiel luxemburgischer Investitionen in Belgisch-Kongo und Brasilien und der Beteiligung Luxemburger Soldaten in der niederländischen Armee oder Luxemburger Botaniker in Lateinamerika usw.

Geschichte und Aufbau des ottonischen Reiches und der Reichskirche im 10. Jahrhundert kann man sehr gut am Beispiel des Grafen Siegfried aus dem Ardennergeschlecht erklären, jene des spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reiches anhand der Königs- und Kaiserdynastie aus dem Hause Luxemburg. Die Geschichte der Salier und Staufer, die in jedem deutschen Geschichtsbuch vorkommen, darf getrost weggelassen werden. Die Geschichte der industriellen Revolution lässt sich hervorragend am Beispiel der Luxemburger Stahlindustrie darstellen: Das Kapital, das zunächst in Klein- und Mittelunternehmen erwirtschaftet wurde, kam anschließend aus dem Ausland, der Absatzmarkt wurde durch Integration in den Zollverein ausgeweitet und erforderte den Bau von Eisenbahnlinien. Der Aufbau einer Stahlindustrie wurde wesentlich gefördert durch den Erwerb eines britischen Patents und zog die Einwanderung von deutschen Ingenieuren mit dem notwendigen Knowhow und billigen italienischen Minenarbeitern nach sich, die mit ärmlichen Wohnungen Vorlieb nehmen mussten. Nach dem Zweiten Weltkrieg profitierte der Stahlsektor ganz entscheidend vom Aufbau eines Gemeinsamen Marktes: der erste Stahlbarren der Communauté européenne du charbon et de l’acier (CECA) wurde in Esch-Belval gegossen und steht – neben der Freizügigkeit für Arbeitsmigranten – prototypisch für die Bedeutung der europäischen Wirtschaftsunion, die so konkreter wird als durch Schaubilder von den europäischen Institutionen.

Keine luxemburgische Meistererzählung

Eine derartige Geschichtsdarstellung wird keine patriotischen Gefühle auslösen, da auch Brüche und Zweifel (z. B. bezüglich der Mitgliedschaft in der CECA von Seiten der Luxemburger Stahlherren und einiger Abgeordneter), Fehlentscheidungen (z. B. durch Großherzogin Marie-Adelheid und die Regierung Eischen im Ersten Weltkrieg oder von Seiten der Verwaltungskommission in den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs) und Kurskorrekturen zu behandeln sind. Ein solcher auf Luxemburg zentrierter Geschichtsunterricht trägt somit durchaus zur Erziehung kritischer Bürger*innen bei, indem er nicht nur die wesentlichen historischen Kompetenzen der Quellenanalyse und der beurteilenden Synthese fördert, sondern die Vergangenheit mit Kontinuitäten und Brüchen darstellt und die klassische luxemburgische Meistererzählung, den „roman national“, die Erfolgsstory als Konstrukt und den Identitätsdiskurs als Ideologie entlarvt. Die Schüler*innen werden erkennen, dass Geschichte keine ewigen Wahrheiten vermittelt, sondern wie in allen Wissenschaften Erkenntnisfortschritte zu verzeichnen sind, die von aktuellen Fragestellungen abhängen. Er gibt zudem den zahlreichen Kindern mit Migrationshintergrund die Möglichkeit, Anknüpfungspunkte mit der Geschichte ihres Herkunftslandes auszumachen, zu erkennen, dass sie in ein Land gekommen sind, das eine eigene Kultur und Geschichte hat, die jener ihrer Heimatländer ebenbürtig ist.

Bei der CNPHist-Tagung riss Marie-Paule Jungblut an, wie man andere Medien als das klassische Schulbuch im Unterricht einsetzen kann, wie man auch in Luxemburg außerhalb der Schulklasse Schüler*innen mit Vergangenheit und Geschichtskonstruktionen konfrontieren kann, um Lernprozesse zu initiieren. Die am Workshop zum Stellenwert der Luxemburger Geschichte im Geschichtsunterricht teilnehmenden Geschichtslehrerinnen fanden zahlreiche Beispiele, wie man weltgeschichtliche Entwicklungen an Luxemburger Beispielen erklären kann. Bedauert wurde nur, dass weder das offizielle Programm ihr Rechnung trug, noch die notwendigen Lehrmittel zur Verfügung stehen.

Das Bedürfnis nach Luxemburger Geschichte an den Sekundarschulen zeigt sich letzten Endes auch in den Motivationsschreiben, die junge Bewerber*innen für ein Geschichtsstudium an der hiesigen Uni einreichen (müssen): Viele von Ihnen behaupten, sich für ein Studium an dieser Universität entschieden zu haben, weil sie endlich auch die Luxemburger Geschichte kennenlernen möchten. Aus diesem Grund ist es sehr zu bedauern dass das Rektorat der Universität im Historischen Institut einen Lehrstuhl nach dem anderen streicht – aktuell jenen für transnationale Luxemburger Geschichte. Wenn der FNR vorhat4, der Regierung „Cultural identities and nationhood“ als Forschungspriorität zu empfehlen, ist es zumindest widersprüchlich, wenn Regierung und Universitätsleitung die historische Forschung zu Luxemburger Themen auf Zeitgeschichte reduzieren wollen und nur die Förderung der luxemburgischen Sprache und Sprachforschung als Mittel ansehen, um nationalpopulistischen Kreisen das Wasser abzugraben.

Ein auf Luxemburg zentrierter Geschichtsunterricht im oben dargestellten Sinne ist auch durchaus vereinbar mit der bei der CNPHist-Tagung in einer anderen Arbeitsgruppe diskutierten Frage, ob nicht thematische Längsschnittthemen den traditionellen chronologischen Zugriff ersetzen oder zumindest ergänzen sollten. Ein Beispiel wären die immer wieder im Sozialraum Luxemburg festzustellenden kulturellen Transfers von der Bandkeramikkultur über die gallo-römische Akkulturation, die angelsächsische Evangelisierung bis hin zu den italienischen, portugiesischen, kroatischen, amerikanischen Einflüssen auf Küche und Musik.

Eine solche Reform wird natürlich Geld kosten, zuerst um ein klares Konzept auszuarbeiten, dann um die notwendigen gedruckten und digitalen Medien zur Verfügung zu stellen. Marie-Paule Jungblut stellte u. a. ein serious game vor, das Sozialgeschichte am Beispiel der Stadt Luxemburg im 17. Jh. vermittelt, für das aber noch die Finanzierung aussteht. Mit der Internetseite kulturgeschicht.lu hat das Erziehungsministerium immerhin einen bemerkenswerten Anfang gesetzt.

Die von Rachel Raus und Paul Feltes organisierte Studientagung der CNPHist war ein großer Erfolg: rund dreißig Lehrer*innen diskutierten engagiert über eine Neuorientierung des Geschichtsunterrichts. Man darf gespannt sein, wie viele der nicht anwesenden Geschichtslehrer*innen die von ihnen gewünschte Reform mittragen werden.

  1. Nico Helminger, „Wahl & Wal. Skizzen zum Porträt des Schriftstellers als Luxemburger“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 5, 1, 2014, S. 161-169, hier S. 162.
  2. Michel Pauly, „Wehret den Anfängen“, in: forum 388, Oktober 2018, S. 5-7.
  3. Vgl. Michel Pauly, „Was unterscheidet die Muschelkette aus Waldbillig von der Igeler Säule? Von der trans- zur metanationalen Perspektive in der Nationalgeschichte am Beispiel Luxemburgs“, http://www.connections.clio-online.net/searching/page?q=Pauly (letzter Aufruf: 9. Mai 2019); Ders., „Questions autour d’une parure en coquillages trouvée à Waldbillig. Plaidoyer pour une perspective trans- ou meta-nationale de l’histoire luxembourgeoise“, in: Hémecht 58, 2006, S. 9-33.
  4. Revision of the National Priorities for Public Research. FNR Propositions to the Government, April 2019, https://www.fnr.lu/prio-fnr-propositions-government/ (letzter Aufruf: 9. Mai 2019).

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