Realitätsverlust oder Generationenbetrug?

Während sich die geschriebene und gesprochene Tagespresse in Wahlarithmetik und parteipolitischen Spekulationen übt, möchte forum der Frage nachgehen, was das Ergebnis der Gemeindewahlen über den Zustand der Luxemburger Gesellschaft aussagt.

Die Kommunalwahlen gewonnen hat die Feel-Good-Partei. Eine Partei, die Klimaschutz nur so weit betreiben will, wie er mit den vorgeblichen Interessen der Wirtschaft kompatibel ist. Gewonnen hat auch jene Partei, die als einzige offen für Fleisch­konsum und Autofahren wirbt. Verloren haben hingegen die Parteien, die ernsthafte Maßnahmen gegen die Klimakrise, gegen Wohnungsnot und soziale Ungleichheit versprechen.

Sowohl vor als auch nach den Wahlen hatten Leitartikel der größten Tageszeitung davor gewarnt, dass „Grünen-Bashing zwar Spaß macht, aber keine Klimakrise löst“1 und gefordert, dass „Schluss [sein muss] mit ‚Ja, aber…‘ beim Klimaschutz“2. Hoffentlich haben das auch die zwei Luxemburger Wort-Journalistinnen verstanden, die das Gréng-Bashing seit Jahren eifrigst betreiben. Selbst die Parteien hatten allesamt zusätzliche Fahrradwege versprochen. Doch das Wahlresultat nach den Kommunalwahlen am 11. Juni zeigt eindeutig, dass sich die Stimmung in Luxemburg gewandelt hat. Meinungsumfragen bei der Gesamtbevölkerung nennen zwar Klima­krise und soziale Ungerechtigkeit als zwei der größten Sorgen. In der politischen Wahlpraxis – an der fast nur Luxemburger teilnehmen dürfen –, will man von Maßnahmen gegen die Klimakrise und zugunsten von mehr bezahlbaren Wohnungen dagegen nichts wissen. 

© Philippe Reuter / forum

In Frankreich hatte eine Steuer auf Diesel die Aufstände der Gilets Jaunes ausgelöst. In Deutschland artet der Ärger über Proteste der Letzten Generation immer häufiger in Gewaltreaktionen aus. In Luxemburg liegen tote Katzen auf dem Wahlplakat der Gréng. Die Partei wird von partei­politischen Gegnern und Journalisten als „Verbots­partei“ beschimpft und der „Ideologie“ bezichtigt. Von den Kraftausdrücken auf der RTL-Kommentarseite mal ganz abgesehen.

Die Erklärung, dass die Stimmenverluste der Gréng den unredlichen Unterstellungen von Konkurrenzparteien wie der ADR oder der CSV zuzuschreiben seien, greift aber meines Erachtens nach zu kurz. Die Anti-Grünen-Slogans drücken eher eine Grundstimmung in der Gesellschaft aus, die nicht durch die Parteien am rechten Flügel des politischen Spek­trums provoziert wurde. Im Gegenteil: Eine Mehrheit der Luxemburger Gesellschaft leidet unter einem Realitätsverlust, den die etablierten Parteien mittragen. Dadurch, dass diese umweltpolitische Versprechen geben, die – wie sie selbst sagen – niemandem weh tun sollen, fühlen sich um das Klima besorgte Wähler beruhigt. Weil dem so ist, trauen sich Déi Gréng nicht, Waldbrände, Überschwemmungen, Hitzewellen, Bienensterben und andere Themen nachhaltig zu thematisieren. Sie beschränken sich stattdessen auf seichte Forderungen wie zusätzliche Fahrradwege. Die falsche Hoffnung dahinter: keine Stimmen an die Konkurrenzparteien zu verlieren, die immerhin ebenfalls schale Versprechen machen.

Eine Mehrheit der Luxemburger Gesellschaft leidet unter einem Realitätsverlust, den die etablierten Parteien mittragen.

Eine ähnlich beruhigende Wirkung hatte in der Hauptstadt die Sicherheitsfrage, die von der DP bis zu den Piraten im Wahlkampf aufgegriffen wurde, um anschließend wieder bis 2029 in der Mottenkiste zu verschwinden. Die Politiker wissen, dass die Sicherheitsdebatte in der Stadt Luxemburg nur deshalb existiert, weil sie sie führen – und nicht, weil die Wähler tatsächlich Ängste haben. Luxemburg ist und bleibt eine der sichersten Städte Europas3. Allein die CSV hat diese Debatte Stimmen gekostet: Die wenigen Wähler, die diese Partei noch aus christlicher Motivation heraus wählen, erkannten in dem von ihr mitgetragenen, kurz vor den Wahlen verhängten Bettelverbot dann doch einen klaren Verrat am christlichen Caritas-Gebot.

© Philippe Reuter / forum

Auf der linken Seite sieht es nicht besser aus: Dass der hauptsächlich von Déi Lénk in die Debatte geworfene akute Wohnungsmangel der Partei keine zusätzlichen Stimmen einbrachte – im Gegenteil –, liegt wohl daran, dass die Wahlberechtigten von dieser Not noch nicht stark betroffen sind. Letztere trifft vor allem die Unterschicht und die untere Mittelschicht. Beide bestehen zu großen Teilen aus Ausländern, die sich nicht in die Wahllisten eingeschrieben haben, und Grenzpendlern, die sich wegen der hohen Wohnungspreise nicht in Luxemburg nieder­lassen und daher kein Wahlrecht haben. Dass Déi Lénk als einzige Partei – abgesehen von ein paar Plakaten der LSAP – mit programmatischen Wahlversprechen statt mit Kandidatenköpfen auf ihren Plakaten warb, ist an sich lobenswert. Gleichzeitig verkennt diese Strategie aber die Gesetze der Kommunikation und dürfte ein weiterer Grund für die Verluste der Partei sein.

Wohin gingen die grünen Wähler?

Dass Déi Gréng von ihren Urwählern verlassen wurden, weil sie die grünen Ideale mit der Regierungsbeteiligung verraten hätten, wie Fabien Grasser in Woxx4 schreibt, dürfte meiner Meinung nach kaum zutreffen: Wohin wären diese Stimmen gewandert? Wohl kaum zu den Etablierten – und auch Déi Lénk haben verloren. Die programmlose Partei der Piraten hat sie ebenfalls kaum aufgefangen.

Deren Erfolg spricht sogar eher für meine These der Realitätsverkennung durch die Wähler: An der Lösung der tatsächlichen Probleme unserer Gesellschaft sind immer weniger Menschen interessiert. Dagegen haben der Populismus der ADR und der Piraten und die leeren Versprechen von DP und CSV, die nur eine „vernünftige Klimapolitik“ (Luc Frieden) und Wohnungspolitik zugunsten der Eigentümer betreiben wollen, große Chancen, auch bei den Landeswahlen am 8. Oktober 2023 die Oberhand zu behalten. Angesichts der immer bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe und der sich zur sozialen Krise ausweitenden Zunahme der von Armut und Obdachlosigkeit bedrohten Schichten ist das ein doppelter Betrug: an den Armen und Besitzlosen ebenso wie an den kommenden Generationen.

Selbstbetrug ist aber die ideologisch und elektoral bedingte Placebo-Politik in Sachen Klimakrise und Wohnungsnot. Früher oder später werden die dafür verantwortlichen Parteien an der Realität nicht mehr vorbeikommen und viel einschneidendere Maßnahmen verordnen müssen, wenn es nicht auch bei uns zu sozialen Aufständen und Klimatoten kommen soll. Diese Lösungen werden erst richtig teuer werden. Die Kinder von heute sind zu bedauern, wenn sie sie als Erwachsene von morgen finanzieren müssen.  

1 https://www.wort.lu/international/gruenen-bashing-macht-zwar-spass-loest-aber-keine-klimakrise/1652498.html (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 19. Juni 2023 aufgerufen).

2 https://www.wort.lu/politik/klimaschutz-schluss-mit-ja-aber/1087695.html

3 https://de.numbeo.com/kriminalit%C3%A4t/aktuelle-rankings-nach-region?region=150

4 https://www.woxx.lu/elections-communales-dei-greng-douche-froide-apres-les-annees-deuphorie/

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