Im Herbst hagelte es soziale Hiobs­botschaften.

Im STATEC-Bericht Travail et cohésion sociale heißt es, das Armutsrisiko sei 2019 in Luxemburg nunmehr auf 17,5 % gestiegen. Seit 2003, als der Faktor bei 12,2 % lag, gab es eine stetige Steigerung, d. h. die sozialen Ungleichheiten nehmen kontinuierlich zu. Besonders hart betroffen sind Ausländer, deren Armutsrisiko bei 21,7 % liegt, Kinder mit 24,8 %, Alleinerziehende mit 41,3 %.1 Der Anteil der working poor an den Lohnempfängern ist der dritthöchste in Europa.2

Studien des STATEC3 zu der sozialen Schere zufolge lag der durchschnittliche Bruttojahresverdienst 2018 für einfache Berufstätige bei 34.440 €, für leitende Angestellte bei 145.135 €; im Horeca-Sektor bei 33.800 €, im Finanzsektor bei 99.250 €. Frauen verdienten im Schnitt 62.830 €, Männer 67.675 €; Schulabgänger mit Grundschulabschluss 39.400 €, Akademiker mit Master- oder höherem Diplom 108.810 €. Insgesamt lag 2018 der Durchschnittsjahreslohn bei 65.800 €, doch die Hälfte aller Lohnempfänger verdiente weniger als 49.548 €. 65 % der Luxemburger beziehen ein Gehalt, das über dem Medianwert liegt, gegenüber 42 % der ausländischen Mitbürger und 37 % der Grenzgänger. Und die Wohnungspreise sind im ersten Halbjahr trotz COVID-Krise mal wieder um 14 % gestiegen.

Laut Jahresbericht des Tax Justice Network gingen 427 Milliarden Dollar durch Steuerflucht den Staaten verloren, in denen sie erwirtschaftet wurden.4 Luxemburg liegt (hinter den Kaiman-Inseln, Großbritannien und den Niederlanden) an vierter Stelle der Gewinner, obschon das Land rein rechtlich gesehen kein Steuerparadies mehr ist. Für Länder wie die Elfenbeinküste oder Bolivien ist Luxemburg der Hauptverantwortliche des Einnahmeverlustes durch Steuerflucht. Und Luxembourg for Finance schämt sich nicht, in einer Werbekampagne „eis Finanzplaz“ den Luxemburgern schmackhaft zu machen, wohl weil die staatliche Agentur verstanden hat, dass der Imageschaden groß ist. Doch die unlauteren, gegen jedes Gerechtigkeitsdenken verstoßenden Finanzpraktiken abzustellen, kommt ihr nicht in den Sinn. Und die Handelskammer verlangt in ihrem Gutachten zum Staatsbudget 2021 eine Herabsetzung der Unternehmenssteuern, um ihre Marktfähigkeit zu verbessern.

Demgegenüber stellt Papst Franziskus in seiner Anfang Oktober veröffentlichten Enzyklika Fratelli tutti, mit der er sich nicht nur an Katholiken, sondern an alle Menschen guten Willens richtet, unmissverständlich fest: „Der Markt allein löst nicht alle Probleme, auch wenn man uns zuweilen dieses Dogma des neoliberalen Credos glaubhaft machen will. Es handelt sich um eine schlichte, gebetsmühlenartig wiederholte Idee, die vor jeder aufkeimenden Herausforderung immer die gleichen Rezepte herauszieht.“ (§ 168) Daher sei eine tiefgreifende Umorientierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems erforderlich: „Das Recht einiger auf Unternehmens- oder Marktfreiheit kann nicht über den Rechten der Völker und der Würde der Armen stehen und auch nicht über der Achtung für die Schöpfung […]“ (§ 122) „Das Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der für alle geschaffenen Güter ist das ,Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung‘, es ist ein natürliches, naturgegebenes und vorrangiges Recht. Alle anderen Rechte an den Gütern, die für die ganzheitliche Verwirklichung der Personen notwendig sind, einschließlich des Privateigentums und aller anderen, ,dürfen seine Verwirklichung nicht erschweren, sondern müssen sie im Gegenteil erleichtern‘ […].“ (§ 120)

Die biblische Begründung dieser radikalen Forderung liefert der Papst mit einer Exegese der Erzählung vom guten Samariter. Obschon Juden der Kontakt mit Samaritern strengstens verboten war, nahm er sich Zeit, um dem jüdischen Opfer von Räubern zu Hilfe zu kommen, während ein Priester und ein Levit ohne Anteilnahme am Opfer vorbeieilten. Dieser Paradigmenwechsel ist schon in der vom Evangelisten Lukas gestalteten Geschichte der Geburt Jesu angelegt. Lukas weist einer Gruppe von Hirten die entscheidende Rolle zu: Sie erkennen in dem Neugeborenen im Stall bei Betlehem den Erlöser, das Heil der Welt. Auch wer nicht an Gott glaubt, versteht, dass hinter dieser literarischen Darstellung ein revolutionärer Paradigmenwechsel steckt: Nicht die Herrschenden und Reichen, sondern die Beherrschten und Armen, die Verstoßenen, die Hirten auf dem Feld, die die Herden der Oberschicht hüteten, erkannten Gott als erste und verbreiteten die Frohbotschaft.

Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie demnächst die Christmette besuchen. In dem Sinne wünsche ich frohe, aufrüttelnde Weihnachten!

  1. https://tinyurl.com/y5d69yac (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 28. November 2019 aufgerufen).
  2. https://www.rtl.lu/meenung/carte-blanche/a/1615231.html.
  3. https://tinyurl.com/y22u3se9; https://tinyurl.com/y3oh2w9y.
  4. https://www.taxjustice.net/reports/the-state-of-tax-justice-2020.

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