Als ich noch Sekundarschullehrer war, war eine der Fragen, die Schüler nach einem Besuch im KZ Natzweiler-Struthof am meisten beschäftigte, folgende: Wie war das möglich? Wieso konnte das nicht rechtzeitig verhindert werden? Die Angst, mich an der Wiederholung einer solchen Jahrhundertkatastrophe durch Schweigen und Zusehen mitverantwortlich zu machen, war und bleibt einer der Gründe meines gesellschaftspolitischen Engagements.
Es mag heute vielen Bürgern nicht bekannt sein, doch die NSDAP, die Nazi-Partei Hitlers, war zunächst bei Reichtagswahlen erfolgreich: 14. September 1930: 18 %, 31. Juli 1932: 37 %, und erlebte dann einen leichten Rückschlag am 6. November 1932: 34 %. Der von Hitler in die Welt gesetzte Begriff einer Machtergreifung war schlicht ein Fake-Begriff, wie man heute sagen würde1.
Die Gründe für diese Wahlerfolge waren vielfältig: Massenarbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929, der als Diktat empfundene Friedensvertrag von 1919, die Zerstrittenheit der demokratischen Parteien u. a. m. Als Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler die Macht ohne zwingenden Grund übergab, war sowohl der Höhepunkt der Wirtschaftskrise als auch jener der NSDAP-Wahlerfolge schon überschritten. Rechte Kreise, die in der Nostalgie des Kaiserreichs schwelgten, hatten die Machtübertragung ermöglicht und gefördert! Mit Blick auf diese historischen Parallelen ist der Rechtsruck innerhalb der CSV, in der die wirtschaftsliberale Fraktion und die „Law&Order-Politiker“ die wenigen sozial und ökologisch ausgerichteten Mandatsträger zum Schweigen gebracht haben, besorgniserregender als die geringen Wählerzugewinne der ADR.
Angesichts des Wohlstands, in dem die überwiegende Mehrheit der luxemburgischen Wähler lebt, angesichts des seit fast 80 Jahren herrschenden Friedens und des Aufbaus eines Vereinten Europas, angesichts des weitgehenden Konsenses der regierungsfähigen Parteien, kann man kaum Parallelen zu den frühen 1930er-Jahren in Deutschland ziehen. Warum steigt dann die ADR, deren Exponenten Nazisymbole an ihre Kleider nähen oder die Politik des NS-Gauleiters Gustav Simon verharmlosen, ohne dass die Parteileitung dem widerspricht, langsam aber stetig in der Wählergunst? Wohl ist sie keine Nazi-Partei, denn, wie Umberto Eco in einer Rede schon 1995 festhielt2, ist der Nazismus im Unterschied zum Faschismus, von dem es viele Spielarten gibt, einzigartig und unvereinbar mit dem Katholizismus. Doch rechtspopulistische, gar neo-faschistische Tendenzen sind in der ADR durchaus auszumachen. Haben ihre Wähler denn nichts aus den Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern gelernt?

Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass etliche Luxemburger rassistisch denken und von einem Ordnungsstaat träumen. Immerhin antworteten 33 % der Luxemburger bei der von der Chamber in Auftrag gegebenen Polindex-Studie 2024 der Uni Luxemburg3, ihnen sei Effizienz wichtiger als Demokratie. (Bei den Ausländern war der Prozentsatz übrigens derselbe.)
Sicher ist die in der Polindex-Studie gemachte Beobachtung, dass die 18- bis 24-Jährigen sich vornehmlich im Internet und in den sozialen Medien über Politik informieren, ein Grund, warum sie die historischen Vorgänge nicht kennen und daher die bei der Machtübernahme durch eine faschistische Partei drohende Gefahr verkennen. Das sagt natürlich auch etwas aus über die Bedeutung, die dem Geschichtsunterricht in Luxemburgs Schulen (nicht) zugemessen wird. Ich wette, von meinen Schülern, mit denen ich früher in Begleitung meines Vaters, der dort Häftling gewesen war, jedes Jahr das KZ Natzweiler-Struthof besucht habe, hat keiner ADR gewählt. Und von jenen, die mit Charel Goerens und anderen nach Auschwitz fahren, auch nicht. Aber wie viele junge Leute bekommen diese Chance?
Doch auch ältere Wählerkohorten wählen die ADR. Es fällt auf, dass alle 25 Gemeinden, in denen die ADR bei den Wahlen fürs Europaparlament mehr als 15 % der Stimmen erreichte, im ländlichen Raum angesiedelt sind. Ihr bestes Resultat erreichte die ADR im Kiischpelt, gefolgt von Berdorf, Wintger, Bauschleiden und Goesdorf, in denen sie auf über 19 % kam. Am hohen Ausländeranteil kann es in diesen Gemeinden sicher nicht liegen. Im Gegenteil: in Gemeinden mit tatsächlich vielen Einwohnern ohne Luxemburger Pass, wie Niederanven, Schüttringen, Steinsel, Bartringen, Luxemburg, Esch-Alzette, Fels u.a. bleibt die ADR unter 9 %. Dort weiß man, dass das Zusammenleben mit Ausländern nicht problematischer ist als das mit „Stockluxemburgern“. Die Migrationsfrage erklärt somit vordergründig den Wahlerfolg dieser Partei nicht, trotz ihrer offenen Ausländerfeindlichkeit. Doch offenbar sitzt die Angst vor Fremden gerade in jenen Räumen tiefer, wo weniger Ausländer wohnen, also auch der Kontakt mit ihnen seltener ist, sodass die Partei die Angst vor Überfremdung leichter schüren kann.
Doch offenbar sitzt die Angst vor Fremden gerade in jenen Räumen tiefer, wo weniger Ausländer wohnen, also auch der Kontakt mit ihnen seltener ist, sodass die Partei die Angst vor Überfremdung leichter schüren kann.
Der Erfolg der ADR im ländlichen Raum dürfte eine andere Erklärung haben. Viele Menschen, die dort leben, fühlen sich abgehängt und von der Politik in der Hauptstadt vernachlässigt: keine Post mehr in der Nähe, keine Gendarmerie mehr, schlechte und umständliche Busverbindungen (wer in der Hauptstadt nicht täglich mit dem Bus fährt, ist eher verloren, wenn er auf einer Umsteigeplattform ankommt), komplizierter Zugang zur medizinischen Versorgung, Digitalisierung auf Teufel komm raus statt menschlicher Kontakte … Wie sagte die deutsche Grünen-Politikerin Göring-Eckardt in einem aktuellen Spiegel-Interview: „Wir denken Politik zu wenig von den ländlichen Räumen her.“
Solche alltäglichen Frustrationen schüren Ressentiments und sind gefundenes Fressen für die ADR. Menschen, die sich verunsichert und isoliert fühlen, verspricht sie als Lösung die Zugehörigkeit zur nationalen Sprachgemeinschaft, zu einer Nation mit traditionalistischen Werten, die als typisch luxemburgisch verkauft werden, in der LGBTQIA+-Rechte und Minderheitenschutz kein Thema sind, wo die Frauen am Herd stehen und sich um die Kindererziehung kümmern, wo die Welt noch heil ist.
Es kommt hinzu, dass viele Bauern und Winzer tatsächlich noch kleine Renten (unter 2.500 €) beziehen, obschon sie ein Leben lang hart gearbeitet haben. Für sie ist die ADR noch immer die Partei der Rentengerechtigkeit und sie merken nicht, dass die Partei im Parlament bei wirtschafts- und sozialpolitischen Themen stets mit CSV und DP zugunsten der Wirtschaftseliten abstimmt. Sie stellt zwar regelmäßig das Bevölkerungswachstum in Frage – und trifft damit offenbar einen Nerv bei vielen Wählern –, fällt aber genauso regelmäßig über jene her, die angesichts begrenzter Rohstoffe auf Erden das stetige Wirtschaftswachstum als Sackgasse ansehen. Wie sie diesen Widerspruch im Falle einer Regierungsbeteiligung lösen will, verrät sie mit ihren simplistischen Lösungsansätzen nicht. Dass die Opfer des Neoliberalismus, dem sich auch die sukzessiven Luxemburger Regierungen verschrieben haben und den die aktuelle mit neuer Vehemenz durchsetzt, mit berechtigten Ängsten auf den drohenden Abbau des Wohlstandsstaates und die Infragestellung der sozialen Marktwirtschaft reagieren, kann man verstehen. Und diese Ängste schlachtet die ADR hemmungslos aus, macht die Ausländer, die mehr als 70 % des Arbeitsmarktes stellen, zum Sündenbock, indem sie ihnen fehlende Kenntnisse in der Luxemburger Sprache vorwirft und führt so diese – real oder vermeintlich – vom sozialen Abstieg bedrohten Wähler in die Irre. Und (fast) kein Politiker, (fast) kein Journalist gibt sich die Mühe, diese Lügen zu entlarven.
Dass der neoliberale Irrweg der Grund ist, warum die EU-Kommission gewisse Konsumpraktiken wie Verbrennungsmotor, Fleischkonsum … in Frage stellt und zum Teil verbietet, erklären weder ADR noch DP und CSV, die unsachgemäß die Schuld den Grünen in die Schuhe schieben, die noch nie Mitglieder der EU-Kommission stellten. Diese Infragestellung althergebrachter Gewohnheiten stößt aber gerade im traditionellen, noch von althergebrachten katholischen Denkmustern (binäres Geschlechtermodell, traditionelle Familie …) geprägten Milieu auf Widerstand, den die ADR zu ihren Gunsten ummünzt. Zur Abwehr der soziokulturellen Entwicklungen (Gleichberechtigung der Frauen, Homosexuellenehe, Toleranz für sexuelle Minderheiten …) will die ADR ein rückwärtsgewandtes Heimatgefühl verstärken.
Kein Parteivertreter gab sich die Mühe, nach den Motiven zu forschen, warum die ADR gewählt wird, d. h. nach den Missständen und Sorgen zu suchen, die der ADR Wähler zutreiben, und darauf konkrete Antworten zu suchen.
Beim public forum am 26. März 2024 meinte eine ältere Dame, sie stehe zur ADR, denn sie könne die CSV nicht mehr wählen, da diese katholische Werte wie Abtreibungsverbot oder schulischen Religionsunterricht nicht mehr vertrete. Die Dame vertrat eine politische Haltung, die man als rückständig ansehen mag, die aber sicher Respekt verdient und konsequent ist. Leider hat sie nicht gemerkt, dass die ADR mit ihren rückwärtsgewandten Ordnungsvorstellungen die Demokratie und den Minderheitenschutz – auch katholische Werte! – aushöhlt und das ökologische Denken von Papst Franziskus völlig unter den Teppich kehrt.
Sicher sind meine Beobachtungen und Überlegungen nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber ich finde es erschreckend, dass weder die demokratischen Parteien noch die Demoskopen und Politologen nach den Gründen des (begrenzten) Wahlerfolgs der ADR forschen. Beim zitierten forum-Rundtischgespräch vor den EU-Wahlen zur Frage: „Was unternehmen Sie, um einen Rechtsruck im Europaparlament zu verhindern?“, antworteten alle: „Wählt uns, dann erhalten die Rechtsparteien keine Stimme!“ Kein Parteivertreter gab sich die Mühe, nach den Motiven zu forschen, warum die ADR gewählt wird, d. h. nach den Missständen und Sorgen zu suchen, die der ADR Wähler zutreiben, und darauf konkrete Antworten zu suchen. Die Führungsriegen von CSV und DP sowie zum Teil auch von déi Gréng und LSAP gehören zu großen Teilen einer sozialen Schicht an, die den Kontakt mit „dem Menschen auf der Straße“ verloren hat, die sich nicht in die Ängste und Sorgen der fast 20 % von Armut bedrohten Einwohner hineinversetzen kann. Das hilft der ADR, die zumindest deren Sprache spricht, auch wenn sie im Fall einer Regierungsbeteiligung laut eigenem Programm keineswegs deren Interessen vertreten würde. Sie stellt zum Teil berechtigte Fragen, die vielen Mitbürgern Sorgen bereiten, und mit ihren simplistischen Antworten auf komplexe Probleme wird sie von vielen Menschen besser verstanden als jene Politiker, die sich zwar die Mühe geben, die Problemlage zu erklären, dann aber häufig keine klaren Lösungswege anbieten können.
Wen wundert’s dann, dass Polindex herausgefunden hat, dass mit dem Begriff Politik 54 % der Befragten als Erstes Misstrauen assoziieren? Und dass 39 % antworten, keiner Partei die Fähigkeit zuzutrauen, die anstehenden Probleme zu lösen?4
1 Siehe Michel Pauly, „Hitler hat die Macht nie ergriffen, oder: Die Flucht in den Führerstaat“, in: forum 61, 1983, S. 2-4.
2 Umberto Eco, Reconnaître le fascisme, Paris, Grasset, 2024, S. 41.
3 https://www.uni.lu/wp-content/uploads/sites/2/2024/06/Presentation-POLINDEX-I-2024-Bureau-CHD.pdf (letzter Aufruf: 12. Juli 2024). Zur Kritik an der Studie siehe forum 433, S. 12.
4 Der Artikel beruht auf meinem Beitrag in der Rubrik „Fräie Micro“, der am 11. Juli 2024 auf Radio 100,7 ausgestrahlt wurde.
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