- Zeit
Zeit ist Geld
Von der Zeitmessung in Mittelalter und Neuzeit
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Eine Minute zu spät an der Haltestelle und der Bus ist weg. Oder rechtzeitig zum Bahnhof gehetzt, und dann wird der Zug mit einer halben Stunde Verspätung angekündigt. Ärger über verlorene Zeit kennt heute jeder. Das war nicht immer so.
Mal abgesehen von der römischen Sonnenuhr, die in unseren nördlichen Breitengraden klimabedingt keineswegs täglich zur Verfügung stand und eher in der Renaissance wieder in Mode kam, ist das Anbringen öffentlicher Uhren eine Erfindung des späten Mittelalters.1
Die älteste öffentliche Uhr in der Stadt Luxemburg – private gab es nicht, weil die Uhren vor 1500 noch nicht tragbar waren und auch nicht in eine Wohnung gepasst hätten – wird im städtischen Rechnungsbuch von 1390 erwähnt.
Von Turmuhren …
Die mechanische Uhr, gekoppelt an ein Glockenwerk, war eine Entwicklung, die in Europa und nicht in anderen Kulturkreisen gelungen ist, für die aber weder Datum, Ort noch Erfinder bekannt sind, auch wenn Oberitalien als Ursprungsgegend am wahrscheinlichsten ist.2 Möglicherweise entstand sie in einem Kloster, das nach einem zuverlässigen Wecker für das Nachtgebet suchte, doch sie entwickelte sich auf jeden Fall, wie alle großen Erfindungen, aus einem wirtschaftlichen Bedürfnis. Jacques Le Goff stellte daher den „temps du marchand“ dem „temps de l’Eglise“ gegenüber, die in Ewigkeiten rechnet.3 Vor allem im Fernhandel erwiesen sich Zeitabsprachen als unbedingt notwendig, allerdings eher in Bezug auf Tage als auf Stunden. Auch die aufkommende Lohnarbeit verlangte nach präzisen Zeitangaben.4 So setzte sich der Gedanke durch, dass Zeit ihren Preis hat: ein unchristlicher Gedanke.
Die Zeitangabe mittels (öffentlicher) Uhren war eindeutig lange Zeit ein rein städtisches Phänomen, das die Lebensweise der Stadtbürger nachhaltig prägen sollte.
1336 zeigte die Uhrglocke einer Mailänder Kirche die 24 Stunden des Tages und der Nacht durch eine entsprechende Zahl von Schlägen an: Diese chronikalisch überlieferte Nachricht ist das älteste Zeugnis für die Existenz einer öffentlichen Uhr. In der Folge breiteten sich öffentliche Uhren recht schnell in ganz Europa aus.5 Die drei letzten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts gelten als Boom öffentlicher Uhren. Wenn für Luxemburg die erste Uhr für 1390 auf dem Bannglockenturm, der sog. Achtpforte am Beginn der heutigen Großgasse, nachgewiesen ist, war die Stadt demnach nicht, wie van Werveke noch meinte, „eine der ersten Städte“6 in Europa, die über solche verfügte, aber keineswegs die letzte. Die erstmals 1413 auf dem Turm der St. Michelskirche in Luxemburg erwähnte und auch von der Stadtverwaltung gewartete öffentliche Uhr zeigt, dass die von Jacques Le Goff herausgestellte Gegenüberstellung von der „Zeit der Kaufleute“ und der „Zeit der Kirche“ so pointiert keineswegs allgemeingültig war.
Die Zeitangabe mittels (öffentlicher) Uhren war eindeutig lange Zeit ein rein städtisches Phänomen, das die Lebensweise der Stadtbürger nachhaltig prägen sollte. Nunmehr konnte die Zeit unabhängig von der Sonne gemessen werden. Der Tag begann das ganze Jahr hindurch zur gleichen Zeit und war in Stunden gleicher Länge eingeteilt. Vorher wurde die Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in zwölf Stunden geteilt, die folglich je nach Jahreszeit unterschiedliche Längen hatten. Auch im 15. Jahrhundert war der Arbeitstag im Sommer noch länger als im Winter, was aus den unterschiedlichen Tageslöhnen für Handwerker hervorgeht. Da nunmehr die Arbeitszeit unabhängig vom Stand der Sonne endete, blieb „Freizeit“ übrig, während der ein Handwerker auf eigene Rechnung arbeiten konnte.
Durch die Einführung öffentlicher Uhren wurden das Wirtschaftsleben, die Marktzeiten, die Arbeitszeit und darüber hinaus viele andere Bereiche des städtischen Lebens wie Ratssitzungen und Schulpläne geregelt, koordiniert, vereinheitlicht.7 Da nunmehr jede Stunde dieselbe Dauer hatte, konnte sie auch mit Hilfe von zur selben Epoche erfundenen Sanduhren in gleiche Zeitabschnitte unterteilt werden. Bis ins 16. Jahrhundert begnügte man sich allerdings europaweit mit der Stundenangabe; daher besaßen die öffentlichen Turmuhren in der Regel nur einen Stundenzeiger. Von Minuten und Sekunden ist im Mittelalter noch keine Rede.
Lewis Mumford meint, die Erfindung öffentlicher Uhren sei als Schlüsselerfindung des modernen Industriezeitalters wichtiger gewesen als jene der Dampfmaschine, die traditionell für dessen Beginn steht. Gerhard Dohrn-van Rossum, der zurzeit bedeutendste Historiker der Zeitmessung, setzt die Erfindung der mechanischen Uhrhemmung auf eine Ebene mit dem Pulvergeschütz und dem Buchdruck.8

Die „Zeit der Kirche“ lebte allerdings weiter, sowohl bei der Bestimmung des Jahresanfangs als auch zur Bezeichnung von Tagen. In der Erzdiözese Trier, zu der das Luxemburger Gutland gehörte, geschah der Jahreswechsel bis zur Einführung des Gregorianischen Kalenders (im Herzogtum Luxemburg 1584) an Mariä Verkündigung, also am 25. März, während in der Diözese Lüttich, zu der u. a. Nordwallonien und das Ösling gehörten, an Weihnachten ein neues Jahr begann. Bis weit ins 15. Jahrhundert wurde in Urkunden der genaue Tag nach dem Tagesheiligen im liturgischen Kalender bestimmt. So konnte die Tagesangabe etwa so lauten: „Im Jahr 1424 nach der Menschwerdung Christi am Montag nach Scheidung der Apostelen kam der vorliegende Beitrag zum Abschluss.“ Das würde bedeuten, dass mein Beitrag am 17. Juli 1424 im Manuskript abgeschlossen wurde, denn Divisio apostolorum, am 15. Juli, fiel 1424 auf einen Samstag.
… und Bahnhofsuhren
Der nächste Sprung betreffend Zeitmessung erfolgte mit der Erfindung der Eisenbahn im 18.-19. Jahrhundert. Da sie nicht individuell genutzt wurde, musste sie nach Fahrplänen fahren, die feste, allgemein bekannt gemachte Abfahrts- und Ankunftszeiten angaben. Deswegen erhielten Bahnhöfe auch öffentliche Uhren. Zur selben Zeit begann die individuelle Taschenuhr sich zu verbreiten, was dazu führte, dass die Menschen ihren Tagesablauf viel genauer programmierten.
Lange Zeit herrschten auch bei der Eisenbahn noch je nach Längengrad unterschiedliche Lokalzeiten. Da die Eisenbahn sehr bald regionale und nationale Grenzen überschritt, wurde eine internationale Abstimmung der Fahrpläne notwendig, und zwar auf die Minute genau (auch wenn die Wirklichkeit bis heute manchmal etwas anders aussieht). Zu dem Zweck unterteilte die Konferenz von Washington 1884 den Globus in 24 Zeitzonen, die sich jeweils um eine Stunde unterschieden. Der Meridian von Greenwich wurde zum Nullmeridian der Zeitmessung bestimmt. In dieser Zone lag auch Luxemburg.
In Luxemburg führte die deutsche Generaldirektion der Gesellschaft der Wilhelm-Bahnen die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) ein, die ab dem 1. April 1892 von den Bahnhofsuhren angezeigt wurde. Wohl oder übel musste sich die Prinz-Heinrich-Bahn, aber auch die Post der MEZ anpassen, die in der Folge das gesamte öffentliche Leben in Luxemburg bestimmte. Eine private Gesellschaft deutschen Rechts hatte die Zeitangabe im Großherzogtum entscheidend beeinflusst, doch de facto blieb auch die WEZ in Kraft und wurde öffentlich von Gemeinde- oder Kirchenuhren angezeigt. Obschon mehrere Gemeinden die Einführung der MEZ forderten, ergriff die Regierung erst 1896 die Initiative, die MEZ per Gesetz einzuführen, unterstützt von einer Petition, die der Touring Club Luxembourg 1900 auflegte. Die Abgeordnetenkammer gab erst 1904 nach vehementen Diskussionen dem Vorschlag ihre Zustimmung. Nach zwölf Jahren Parallelzeiten galt ab dem 1. Juni 1904 die MEZ als einheitliche Zeit im ganzen Großherzogtum.
Der erste Teil des Beitrags beruht weitgehend auf: Michel Pauly, „Von Uhren und Glocken. Zeitmessung und Klangwelt in der mittelalterlichen Stadt Luxemburg“, in: Hémecht 71, 2019, S. 213-224, der zweite Teil auf: Yvan Staus, „Es ist allerhöchste Eisenbahn, die Zeit ist schon vor drei Stunden angekommen“: die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit im Großherzogtum Luxemburg, in: Hémecht 58, 2006, S. 385-410.
1 R[olf] Sprandel, Art. „Zeit“, in: Lexikon des Mittelalters, München, 1998, Bd. 9, Sp. 509-514.
2 Gerhard Dohrn-van Rossum, „Mechanische Uhren, moderne Zeitrechnungen und die Wissenschaften im Spätmittelalter“, in: Wolfgang Kautek u. a. (Hg.), Zeit in den Wissenschaften (Wissenschaft – Bildung – Politik), Bd. 19, Wien/Köln/Weimar, 2016, S. 9-43.; Gerhard Dohrn-van Rossum, „Uhren und Uhrzeiten in den mittelalterlichen Städten“, in: Manfred Schukowski/Uta Jahnke/Wolfgang Fehlberg (Hg.), Astronomische Großuhren im Mittelalter. Internationales Symposium in Rostock 25. bis 28. Oktober 2012 (Acta Historica Astronomiae, 49), Leipzig, 2014, S. 75-94.
3 Jacques Le Goff, „Au Moyen Age: Temps de l’Eglise et temps du marchand“, in: Annales. Economies, Sociétés, Civilisations, 15/3, 1960, S. 417-433.
4 Gerhard Fouquet, „Zeit, Arbeit und Muße im Wandel spätmittelalterlicher Kommunikationsformen. Die Regulierung von Arbeits- und Geschäftszeiten im städtischen Handwerk und Gewerbe“, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 40), München, 1988, S. 237-275.
5 Helmut Flachenecker, „Mechanische Uhren“, in: Uta Lindgren (Hg.), Europäische Technik im Mittelalter, 800 bis 1400. Tradition und Innovation. Ein Handbuch, Berlin, 1996, S. 391-398.
6 Nikolaus Van Werveke, Kulturgeschichte des Luxemburger Landes, Bd. II, Luxemburg, 1924.
7 Gerhard Dohrn-van Rossum und Rolf Westheider, „Die Einführung öffentlicher Uhren und der Übergang zur modernen Stundenrechnung in den spätmittelalterlichen Städten Niedersachsens“, in: Cord Meckseper (Hg.), Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150-1650. Ausstellungskatalog, Stuttgart, Cantz’sche, 1985, Bd. 4: Aufsätze, S. 317-336.
8 Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München/Wien, 1992.
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