Das Gründungsdatum des Luxemburger Staates und die Sprachenfrage
Über den Symbolgehalt konkurrierender Narrative und einen blinden Fleck der Geschichtsschreibung (Teil 1)
Gleich zwei Fachsektionen des Institut Grand-Ducal haben über das Geburtsdatum des „sujet juridique étatique appelé ‘Grand-Duché de Luxembourg’“ diskutiert.1 In meinem Beitrag geht es nicht darum, die Reihe der Anwärter 1815, 1839, 1867 um ein weiteres Datum – das Jahr 1841 – zu ergänzen, sondern auszuloten, was die einzelnen Jahreszahlen symbolisieren und weshalb wir Luxemburger uns so schwertun mit der Frage nach der Souveränität oder gar der Daseinsberechtigung unseres Staates. Es geht aber auch um den blinden Fleck der Luxemburger Geschichtsschreibung: die Sprachengeschichte, die gleichzeitig Brennglas und Zerrspiegel der Machtpolitik ist. Letztlich geht es um das Selbstverständnis der Luxemburger Gesellschaft, deren Erörterung nicht rechten, identitären Kräften überlassen werden darf.
Pas en mon nom
Aus Anlass des 200. Jahrestages hatte Guy Thewes die Verhandlungen der Großmächte beim Wiener Kongresses im Jahre 1815 neu untersucht und die These verteidigt, dass diese keineswegs die Intention hatten, „einen separaten und souveränen Staat zu schaffen“.2 Staats- und Verfassungsrechtler Luc Heuschling hat sich seinerseits in einer rezenten Studie der juristisch komplexen Frage gewidmet, wie sich internationales und nationales Recht in Luxemburg verschränken. Sein Vorschlag für das Geburtsdatum: Silvester 1830. Nach einem Koreferat von Staatsrechtler Michel Erpelding vom Max-Planck-Institut Luxemburg und etlichen Diskussionsbeiträgen konnte keine Einigkeit erzielt werden. Michel Pauly zog das Fazit, dass weiterhin großer Forschungsbedarf besteht und bedauert die Abschaffung des Lehrstuhls für transnationale Luxemburger Geschichte.3
Dabei sind die Fakten seit dem monumentalen Werk von Albert Calmes weitestgehend bekannt; dessen dritter Band trägt den Titel La création d’un État (1841-1848). Eigentlich geht die Kontroverse auch nicht um die Faktenlage, sondern um das Narrativ, das der Entstehung des Luxemburger Staates zugrunde liegt und, darüber hinaus, um die prinzipielle Frage der Souveränität eines Kleinstaates und deren Träger. Darauf hat Pauly mit Recht 2015 anlässlich des Gedenkjahres für „200 Jahre Großherzogtum“ und dem zeitgleich stattfindenden Referendum über das sogenannte Ausländerwahlrecht hingewiesen.4 Eine Frage, die sich dieser Tage, wo der Luxemburger Finanzplatz unter dem Stichwort OpenLux erneut Schlagzeilen macht, weiter zuspitzen lässt. Wer entscheidet, was in „unserem Namen gemacht“5 wird? Wer soll über die Luxemburger Gesetze bestimmen? Die Staatsbürger*innen, alle Einwohner*innen bzw. alle „hier lebenden und arbeitenden“ Menschen? Oder gilt auch heute noch das Primat der „äußeren Mächte“, nur dass andere die fünf europäischen Großmächte abgelöst haben: die EU, das klassische Finanzkapital oder rezentere Kapitalfraktionen, allen voran die Immobilienspekulanten und Börsenzocker?
1815 Une souveraineté voilée ou volée?
Das Großherzogtum wurde 1815 durch den Wiener Kongress geschaffen. Doch wurde damit gleichzeitig auch ein Luxemburger Staat als Rechtssubjekt geschaffen? Nach einer akribischen Aufarbeitung der Verhandlungsprotokolle meint Guy Thewes, dass dies nicht die Intention der Großmächte war. Um die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bekommen, sollte Wilhelm I. ein zurechtgestutztes Herzogtum Luxemburg, das trotz der territorialen Verkleinerung aus protokollarischen Gründen zum Großherzogtum erhoben wurde, als Privatbesitz bekommen – „pour être possédé à perpétuité par lui et ses successeurs en toute propriété et souveraineté“, wie es in Artikel 67 der Schlussakte hieß – und gleichzeitig als Großherzog von Luxemburg dem Deutschen Bund beitreten. Thewes’ Fazit: „Als Mitglied dieses Staatenbundes war Luxemburg tatsächlich schon seit 1815 ein Staat. Als Besitztum Wilhelms I. blieb es aber eine niederländische Provinz.“
Aus dem Koreferat von Michel Erpelding sollen nur zwei Argumente erwähnt werden. Gegen die Eigenstaatlichkeit des Großherzogtums spricht, dass es auf dem internationalen Parkett nicht als Akteur in Erscheinung trat. Das sollte erstmals mit der Unterzeichnung der belgisch-luxemburgischen Postkonvention im Jahre 1839 geschehen. Das gewichtigste Argumente für seine Eigenstaatlichkeit: die Erbfolge, die für die Niederlande und das Großherzogtum unterschiedlich geregelt wird und ihm schließlich 1890 eine eigene Dynastie bescheren wird.
1815 hatte Wilhelm I. die Ambition, ein einheitliches Reich zu schaffen. Da gab es keinen Sonderplatz für ein peripheres Luxemburg. Auch das dort gesprochene Deutsch fand keinen Platz in dem komplizierten Sprachengefüge, das der König zugunsten der Nationalsprache Niederländisch austarieren wollte. „[Guillaume Ier veut faire] de la Hollande, de la Belgique et du Luxembourg un bloc monolithique, c’est pourquoi il essaye de ‘voiler’ la souveraineté distincte du Luxembourg.“6 Diese elegante Formulierung von Gilbert Trausch bezeichnet Thewes abwertend als einen „Gemeinplatz der Luxemburgischen Geschichtsschreibung“ und verweist darauf, dass „weder Preußen noch die anderen Signatarmächte […] Einspruch“7 gegen dessen de facto Vereinnahmung als niederländische Provinz erhoben hätten, was nur bedingt stimmt.
Als im August 1830 in Brüssel Unruhen ausbrachen, fühlten sich die während 15 Jahren als Einwohner der südlichen Provinzen behandelten Luxemburger in der Tat als „membres de la grande famille belge“ und als solche schlossen sie sich der Revolution an.8 Jetzt rächte es sich, dass der König der in der Bundesakte vorgesehenen Verpflichtung, ein Luxemburger Bundescontigent und einen Teil der Festungsgarnison zu stellen, nicht nachgekommen war. Es waren keine Luxemburger Truppen vor Ort, die nach Meinung vieler Zeitgenossen in der ländlichen Provinz den Aufruhr hätten im Keime ersticken und damit den deutschen Bundesstaat Luxemburg aus den Wirren heraushalten können.
Abgesehen von staatsrechtlichen Finessen muss 1815 als Beginn der modernen Luxemburger Geschichte angesehen werden, da durch die Schaffung Luxemburgs als Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes und den Einzug der preußischen Garnison in seiner zur Bundesfestung erhobenen Hauptstadt eine historische Dynamik geschaffen wurde, die erst dessen Überleben ermöglichte.
1830 Une monarchie absolue, corrompue et lilliputienne
Jetzt erinnert sich Wilhelm I. aus durchsichtigen Gründen an den Sonderstatus des Großherzogtums und ruft den Deutschen Bund um Hilfe, während Gouverneur Wilmar am 6. Oktober 1830 in einer Proklamation auf die in Luxemburg kaum bekannte Bundesakte und eine daraus resultierende „nationalité propre, sous la garantie de la confédération germanique“ zurückgreift, die es gegen den sich formierenden belgischen Staat – „une souveraineté étrangère“ – zu verteidigen gelte. Ohne Erfolg. Am 22. November 1830 hat sich das ganze Großherzogtum, außer die von der preußischen Garnison gehaltene Bundesfestung, der Revolution angeschlossen. Schon am 3. November finden die ersten Wahlen statt und Arlon, mit seinen 3.500 Einwohnern zweitgrößte Stadt nach Luxemburg mit deren 10.000, wird zur provisorischen Hauptstadt der neuen belgischen Provinz Luxemburg.
Luc Heuschling sieht in einem Dekret vom 31. Dezember 1830, in dem der König eine separate Verwaltung für Luxemburg ankündigt, die Geburtsstunde des Luxemburger Staates. Als Verfassungsrechtler unterstreicht er, dass der König sich unter Berufung auf den Vorrang der internationalen Verträge über den Art. 1 der niederländischen Verfassung von 1815 hinwegsetzt. Heuschling will in diesem Dekret und in den sich anschließenden Verordnungen eine erste Verfassung Luxemburgs sehen: „une Constitution non codifiée et souple, qui, sur le fond, établissait une monarchie absolue, corrompue et lilliputienne“.9 Deshalb sein Fazit: „l’État luxembourgeois est né, en droit international, en 1815 et, en droit interne, dans la nuit de la Saint-Sylvestre de 1830.“
Doch als Symboldatum für die Erinnerungskultur taugt diese für Heuschling zu Unrecht vergessene „Verfassung“ keineswegs, was er auch selbst zugibt, wenn er sie als „constitution à tout égard vilaine“ bezeichnet. Sie steht viel mehr für den Machtanspruch eines starrsinnigen Königs, der den bereits von den Großmächten beschlossenen Territorialverlust verleugnet. Ihr Geltungsbereich ist die Festungsstadt, die während acht Jahren zu einem sich selbstverwaltenden bürokratischen Wasserkopf verkommt, in dem sich die königstreuen Beamten der ganzen Provinz verschanzt halten.
Ironischerweise gab es bei den diplomatischen Verhandlungen den Vorschlag, die Festung – zusammen mit einem an den Deutschen Bund reichenden Korridor – zu einem Stadtstaat zu machen. Ein Schelm, wer darin die Präfiguration des heutigen Banken-Stadtstaates sehen will, der trotz grenzüberschreitendem Hinterland noch immer eine Nummer zu groß für „die Luxemburger“ zu sein scheint.
1831 Unis par le même dialecte
Bereits am 20. Dezember 1830 erkennen die europäischen Großmächte im Londoner Protokoll die belgische Unabhängigkeit mit der Auflage der strikten Neutralität des neuen Königreichs an, ohne sich über das wegen seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bund zu den besonders heiklen diplomatischen Streitfragen gehörende Schicksal Luxemburgs zu einigen. Die zum gegenseitigen Beistand verpflichteten Bundesstaaten beschlossen umgehend in Luxemburg zu intervenieren. Doch die Großmächte einschließlich der beiden zum Bund gehörenden, Preußen und Österreich, einigen sich bereits am 19. November 1831 auf die Teilung Luxemburgs. Belgien stimmte unter dem Eindruck einer militärischen Niederlage zu, im Gegensatz zu Wilhelm I., der während acht langen Jahren den Schwebezustand aufrechterhalten wird. Das Ergebnis: 97 % der luxemburgischen Bevölkerung leben während dieser Zeit in einem Staat mit der liberalsten Verfassung Europas.
Der deutsche Nationalgedanke hatte 1815 in Wien noch keine Rolle gespielt. Doch mittlerweile hat die Definition des „Deutschen Vaterlandes“ über die deutsche Sprache auch unter den Diplomaten so viel Anklang gefunden, dass sie zur Grundlage der Grenzziehung wurde.10 „Der teutsche Teil der Bevölkerung“ kann „dem teutschen Bunde nicht entzogen werden“. Deshalb sollte die Grenzziehung nach dem „Prinzip der Sprachgrenze“ erfolgen. Dass damit das „Nationalitätsprincip“ zum ersten Mal bei der „Entscheidung politischer Streitigkeiten“ angewandt wurde,11 liegt auf der Hand, passt aber nicht in das Erklärungsschema der Luxemburger Geschichtsschreibung, die bis nach dem zweiten Weltkrieg die Luxemburger Eigenstaatlichkeit gegen den Pangermanismus verteidigen musste. Deshalb betont sie gerne bis heute die Abweichungen der Grenzziehung vom „Prinzip der Sprachgrenze“, die es unbestreitbar u. a. aus strategisch-militärischen Gründen gab.
Die Auswirkung dieser prinzipiellen Entscheidung auf die weitere Entwicklung der Luxemburger Gesellschaft können jedoch nicht überbewertet werden, wie es der belgische Historiker Jean Stengers formuliert: „Il est certain que, unis, ne disons pas par la langue, mais par le même dialecte – le luxembourgeois –, les habitants du Grand-Duché ont trouvé là un facteur supplémentaire d’identité, propice lui aussi au développement d’un sentiment national.“12
Kurzzeitig scheint der König dieses „Nationalitätenprincip“ zu übernehmen und zwei Sprachgemeinschaften in seinem Großherzogtum anzuerkennen. In einer Verordnung vom 14. Juni 1832 heißt es, „daß die deutsche sowohl als die französische Sprache als National=Sprachen des Groß=Herzogthums angesehen werden können, nach dem Landstriche, in welchem die eine oder andere dieser Sprachen üblich ist“. Doch Französisch war „seit jeher“ für die Notabeln im Quartier Allemand nicht nur Arbeitssprache, sondern auch Distinktionskapital und damit gleichzeitig Grundlage und Rechtfertigung der ständischen Unterschiede. Deshalb leisten die Notabeln nicht nur passiven Widerstand, sondern suchen in ihrer Weigerung mit der Festungsgarnison auf Deutsch zu korrespondieren eine regelrechte Machtprobe. Der König ruft sie zur Ordnung, u. a. mit einem neuen Sprachenerlass (22.2.1834), in dem allerdings der Begriff „National=Sprachen“ (langues nationales) durch „Landessprachen“ (langues du pays) ersetzt wurde und das Territorialprinzip nicht mehr vorkommt. Es gilt nur noch die Sprache, die „von den […] betheiligten Personen gesprochen oder deren Gebrauch von ihnen gewünscht wird“.
Nicht nur beim König und den Notabeln – unabhängig davon, ob diese revolutionär oder königstreu waren –, sondern auch bei der Bevölkerung scheint die beschlossene Trennung auf Ablehnung gestoßen zu sein, und bis zum Schluss wird auf beiden Seiten, um den Erhalt der Einheit – ob als belgische Provinz oder als Deutscher Staat war zweitrangig – gerungen, sodass paradoxerweise, während der Zeit als Luxemburg eine belgische Provinz war, das Bewusstsein gestärkt wurde, dass das Großherzogtum eine „souveräne politische Einheit“ darstellt. Und dies „sowohl auf ‚belgischer‘ als auch auf ‚orangistischer‘ Seite“.13 Besonders am Anfang und Ende dieser Periode kommt es zu Volksversammlungen, auf denen vermutlich in der Mundart debattiert wurde. Trotz seiner Häme liefert folgendes Zitat aus dem königstreuen Journal ein Zeugnis davon: „Quelques-uns, voyant les orateurs du meeting haranguer le peuple en langue vulgaire du pays, se sont dit : ‘Voilà du nouveau ! C’est du moins un progrès!’ “14 Es ist vermutlich der erste Beleg für den Gebrauch der gemeinen Volkssprache in der politischen Arena.
Im nächsten forum geht es weiter mit 1839 als Symbol für die nationale Unabhängigkeit, 1841 als Symbol für die Staatsgründung und 1961 als Symbol für den Pragmatismus, die wichtigste Luxemburger Staatstugend.
- https://tinyurl.com/IGD1815
- Guy Thewes, „1815 – Wie das Großherzogtum Luxemburg entstand?“, in: Andreas Fickers/Norbert Franz/Stephan Laux (Hg.), Repression, Reform und Neuordnung im Zeitalter der Revolutionen, Berlin, Peter Lang, 2019, S. 77–102.
- Michel Pauly, „Keine Luxemburger Geschichte mehr an der Uni?“, in: forum 414, Februar 2021, S. 5.
- Michel Pauly, „200 Jahre Großherzogtum“, in: forum 352, Juni 2015, S. 50-53.
- https://majerus.hypotheses.org/1099
- Gilbert Trausch, Le Luxembourg sous l’Ancien Régime (=Manuel d’histoire luxembourgeoise, Bd. 3), Luxemburg. Bourg-Bourger, 1977, S. 51.
- Thewes, 1815, a. a. O, S. 94.
- Albert Calmes, Le Grand-duché dans la révolution belge (1830-1839), Bruxelles, Edition universelle, 1839.
- Luc Heuschling, „Les origines au XIXe siècle du rang supra-constitutionnel des traités en droit luxembourgeois : l’enjeu de la monarchie“, in: Isabelle Riassetto (Hg.) Liber amicorum Rusen Ergeç, Luxembourg, Pasicrisie Luxembourgeoise, 2017, S. 157–216.
- Wolfgang von Franqué, Luxemburg, die belgische Revolution und die Mächte, Bonn, Röhrscheid, 1933, S. 314 und 326.
- Wolfgang, Haubrichs, „Der Krieg der Professoren“, in: Roland Marti (Hg.), Sprachenpolitik in Grenzregionen, Saarbrücken, SDV, 1996, S. 213–249, hier S. 233
- Jean Stengers, „Les changements de nationalité en Europe occidentale et le cas du Luxembourg“, in: Hémecht 41 (1989) 1, S. 5–29, hier S. 27.
- Marie-Paule Jungblut, „Das Hassenpflug-Bild in Luxemburg“, in: Paul Dostert u. a. (Hg.), Le Luxembourg en Lotharingie, Luxembourg, Saint-Paul, 1993, S. 259–276, hier S. 275f.
- Journal de la ville et du Grand-Duché de Luxembourg vom 5. Januar 1839, S. 3.
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