Das Gründungsdatum des Luxemburger Staates und die Sprachenfrage

Über den Symbolgehalt konkurrierender Narrative und einen blinden Fleck der Geschichtsschreibung (Teil 2)

Angeregt durch eine Diskussion am Institut Grand-Ducal über das Geburtsdatum des „sujet juridique étatique appelé ‘Grand-Duché de Luxembourg’“1 habe ich mir vorgenommen, den Symbolgehalt einiger der erwähnten Jahreszahlen zu diskutieren. Nach 1815, 1830 und 1831 in der letzten forum-Nummer geht es weiter mit 1839 und der Periode 1841 bis 1848, in der nach Albert Calmes2 die eigentliche Staatsgründung stattfindet und das Selbstverständnis der „Luxemburger“ als mehrsprachige Gemeinschaft seinen Ursprung hat. 

1839: Autonomie parfaite.… imaginée

Am 19. April 1839 tritt der Londoner Vertrag endlich in Kraft. Obschon dieses Ereignis nicht zum Feiern taugt, da es einerseits für den Verlust von zwei Dritteln des Territoriums und der Hälfte der Bevölkerung steht und andererseits politisch keinen Neuanfang darstellt, wird das Jahr 1839 die Erinnerungskultur bis heute als Gründungsdatum beherrschen. Der Grundstein dafür wurde 1939, also hundert Jahre später, gelegt, als angesichts der Nazibedrohung ein grandioses Jubiläumsjahr gefeiert wurde, um die Ohnmacht des Kleinstaates zu beschwören. Rückblickend wurde das Jahr 1839 vom Organisationskomitee zur Wiedererlangung einer „autonomie parfaite“ hochstilisiert, wie sie die in die Vergangenheit zurückprojizierte Nation bereits von 963 bis 1443 genossen hätte.3 

Die fünfzig Jahre später stattfindenden bescheideneren Feierlichkeiten waren die Gelegenheit für die älteren Generationen, ihre patriotischen Gefühle aufzufrischen, für die jüngeren, sich kritisch mit einer Luxemburger Identität auseinanderzusetzen, die in ihren Augen – und damals auch in meinen, muss ich hinzufügen – zu sehr durch den revanchistischen Diskurs der Kriegsgeneration geprägt war. Genauso standen die meisten von uns Jüngeren der Proklamierung des Luxemburgischen zur Nationalsprache im Jahre 1984 mit totalem Unverständnis gegenüber, da wir, wie Guy Rewenig, in ihm nur eine „Metapher für Enge, Engstirnigkeit, Stillstand [und] politische Lethargie“4 sahen.

Mit der territorialen Neugliederung von 1839 stellte sich die Frage der Luxemburger Staatsbürgerschaft neu. Wer war Belgier, wer Luxemburger? In der Verordnung vom 18. November 1839 wird nicht etwa die nationalité oder citoyenneté, sondern schlicht die qualité de Luxembourgeois („Eigenschaft als Luxemburger“) definiert. Nicht nach „Muttersprache“ oder Abstammung, sondern über den Wohnsitz. Wer in den Grenzen des neuen Rumpfgroßherzogtums wohnt bzw. seinen Wohnsitz aus der belgischen Provinz dorthin verlegt, soll Luxemburger Staatsbürger sein.5 

1839 stellt keinen Neubeginn dar. Im Gegenteil. Jetzt wo die Zugehörigkeit Luxemburgs zum Deutschen Bund vom König-Großherzog voll akzeptiert wird und die französisch sprechenden Territorien verloren sind, soll die Germanisierungspolitik verstärkt fortgeführt werden. Mit Hans Daniel Ludwig Hassenpflug wird der Verfechter eines monarchisch-absolutistisch geprägten Staates, der schon in Kur-Hessen und im Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen die national-liberale Bewegung bekämpft hatte, zu einer Art Gouverneur des Königs in Luxemburg. Sein Titel: „Chef des gesamten Civildienstes“; sein Auftrag: „Verfassung und Verwaltung des Großherzogtums […] auf deutsche Weise“ einzurichten.6 

Keine zwei Jahre dauert diese Restaurationsphase, während der sich der Widerstand der lokalen Notabeln im Ringen um die Verwaltungssprache kristallisiert: „La courbe de l’usage de l’allemand dans l’administration a épousé la courbe du crédit politique de Hassenpflug. Au début, le Chef des services civils apparaît tout puissant, aussi tout le monde correspondait en allemand. Mais au fur et à mesure que son étoile baisse, le français réapparaît dans la correspondance administrative.“7

1841: Je n’appelle pas langue allemande l’idiome usité dans nos campagnes8

Erst nach dem Thronwechsel am 7. Oktober 1840 und dem zeitgleichen Rücktritt von Hassenpflug beginnt nach Calmes die Staatsgründungsphase, die er bis Februar 1848 andauern lässt. Wilhelm I. hatte den Luxemburgern 1831 eine Verfassung versprochen, sein Sohn Wilhelm II. wird sie ihnen am 12. Oktober 1841 gewähren. Diese liberale Ständeverfassung wird in Art. 41 „die Gleichheit der Luxemburger vor dem Gesetz, ohne Unterschied von Religion, von Rang und Geburt“ sowie weitere Grundrechte garantieren, allerdings nicht die Pressefreiheit.

Noch wichtiger: In Zukunft werden die öffentlichen Ämter den Luxemburgern vorbehalten und, um einen Schlussstrich unter die frühere Praxis des landesfremden Regierungs- und Justizpersonals zu ziehen, bekommen kurzerhand alle Beamten die Staatsbürgerschaft. Prosper de Blochausen wird Stift in Den Haag als Staatskanzler für die Angelegenheiten des Großherzogtums und Ignace de la Fontaine Hassenpflug als Gouverneur in Luxemburg ablösen. 

Nun beginnt der Aufbau der Verwaltung und aller für das staatliche Handeln nötigen Institutionen, einschließlich einer eigenen Nationalfahne. Wichtige Gesetze, wie das der zweisprachigen Primärschule, werden verabschiedet. Mit dem Beitritt zum Zollverein im Jahre 1842 wird nicht nur eine wirtschaftspolitische Entscheidung getroffen, sondern die Einbindung in den Deutschen Bund gefestigt. 1841 bekommt Luxemburg seinen ersten Apostolischen Vikar. 1845 wird mit der Société pour la recherche et la conservation des monuments historiques die erste Gelehrtengesellschaft und Vorgängerin des heutigen Institut Grand-Ducal gegründet. Mit dem Turnverein Gym entsteht 1847 ein Geselligkeitsverein, aus dessen Reihen die zwei ersten „Nationalschriftsteller“ Dicks und Lentz hervorgehen werden. Diese erste Aufbauphase wird mit der liberalen, am belgischen Vorbild inspirierten Verfassung von 1848 abgeschlossen, in der auch die Sprachenfrage mit der formalen Gleichstellung der französischen und deutschen Sprache festgeschrieben wird. 

In dieser entscheidenden, weichenstellenden Epoche entwickelt sich auch das Selbstverständnis der Luxemburger als eine einheitliche, aber multilinguale Sprachgemeinschaft und es beginnt nicht nur das Aushandeln der funktionalen Arbeitsteilung zwischen den beiden nunmehr offiziellen Landessprachen, sondern auch die langsame „Genese einer neuen Nationalsprache“.9

Gleich zu Anfang war diese Staatsgründungsperiode durch eine rege Auseinandersetzung um die weitere sprachenpolitische Ausrichtung des Landes geprägt. Michel-Nicolas Muller, Direktor des Athenäums, wird die Grundprinzipien des bis heute gültigen Sprachdiskurses formulieren. Er feiert die Wiederauf­erstehung der Luxemburger Nationalität, die nach zwanzig Jahren französischer und dreißig Jahren niederländischer Herrschaft fast in Vergessenheit geraten sei. „La vraie nationalité d’un peuple, consiste dans le caractère de ce peuple. Ce sont ses mœurs, ses affectations, les us et coutumes du foyer domestique, son langage, ses traditions, c’est sa religion surtout qui est la plus auguste de toutes les traditions.“10 Dies ist die klassische Definition der Kulturnation, nur dass hier die Rede von langage und nicht von langue geht. Aus dem Kontext geht hervor, dass mit langage vermutlich der Sprachgebrauch innerhalb der Gesellschaft und nicht eine (Einzel)Sprache gemeint ist. Genauer, das Zusammenspiel der beiden Hochsprachen und der von Dorf zu Dorf verschiedenen Mundarten, das damals in einigen, teilweise sogar statistisch unterfütterten Beschreibungen dokumentiert wird. Die Präsenz des Französischen will Muller nicht aufgeben, weil sie für ihn zum Kern der Nationalität gehört und einen realen Vorteil darstellt: ­„Il est avantageux pour nous de pouvoir être allemands parmi les français, et de pouvoir être français parmi les allemands.“11 

In diesem Diskurs bleibt die mit dem Französischen praktisch nie in Kontakt kommende, ländliche Bevölkerung ausgeblendet. Deren Anliegen artikuliert das Diekircher Wochenblatt bezeichnenderweise in deutscher Sprache. Nicht zu Unrecht, wie allein schon die Tatsache beweist, dass das Arrêté, das seit 1834 die freie Sprachwahl innerhalb der Verwaltung und vor Gericht (siehe Teil 1 dieses Textes) garantiert, auf ein Neues am 19. März 1841 promulgiert wird. Zwischen dem Diekircher Wochenblatt und dem Journal entbrennt ein regelrechter Pressestreit, der durch Polemik und Unaufrichtigkeit, besonders auf Seiten des offiziösen Regierungsblattes gekennzeichnet ist. Letzteres verschanzt sich hinter die Verteidigung der formalen Gleichheit beider Sprachen, um die Dominanz des Französischen und die reale sprachliche Entmündigung der ungebildeten Bevölkerung zu leugnen. Dieses Negieren der Herrschaftsfunktion von Sprache zieht sich bis heute durch die luxemburgische Geschichtsschreibung und erklärt, weshalb die Sprachenfrage in Übersichtswerken, von einigen Ausnahmen abgesehen, stiefmütterlich behandelt wird.

„Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden.“12 Diese „unschuldigste und zugleich stolzeste Definition“ der deutschen Nation von Jacob Grimm aus dem Jahre 1846 übernimmt Peter Klein, Lehrer am Athenäum und Progymnasium in Diekirch. Er postuliert, dass „das Luxemburger volk, wie seine sprache, durchaus deutsch ist.“13 Doch die wenigsten Einwohner teilen diese Meinung. Dies wird 1848 in der Debatte, um die Wahl der Luxemburger Abgeordneten zur Frankfurter Nationalversammlung deutlich.14 „Die Luxemburger“ wollen unabhängig vom Deutschen Bund an der neugewonnenen Eigenstaatlichkeit festhalten. Nach der gescheiterten deutschen Revolution wird nunmehr die Sprachenfrage bei der Herausbildung eines nationalen Selbstverständnisses eine zentrale Rolle übernehmen. In einem gewissen Sinne wird die Definition von Grimm vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Das, was wir reden, muss eine Sprache sein, weil wir ein Volk sein wollen.

23. juin 1848 : La célébration de l’anniversaire du Grand-Duc… ou de la révolution ?

Im Reigen der traditionellen Staatsgründungsdaten fehlt nur noch der 11. Mai 1867, an dem die Unabhängigkeit Luxemburgs nach der sogenannten Luxemburgkrise durch die Großmächte bestätigt und das Land für „ewig neutral“ erklärt wurde. Dieser Jahrestag wurde sogar 1938 einmal inoffiziell, jedoch von breiten Teilen der Zivilgesellschaft getragen, als Nationalfeiertag mit einem Festakt im städtischen Cercle-Gebäude gefeiert. Doch wurde er bereits im Jahr darauf durch die sogenannte Hundertjahrfeier und das Datum 1839 in den Schatten gestellt. Nach dem Krieg kehrte man zur alten Tradition zurück, den Geburtstag der Herrscherin oder des Herrschers als Nationalfeiertag zu feiern, obwohl er den Nachteil hatte, im Laufe der Zeit, wie Batty Weber 1929 schrieb,15 schon „ganz genau durch den halben Kalender“ gewandert zu sein. 

Während der von 1919 bis 1964 anhaltenden Regierungszeit von Großherzogin Charlotte ward man es zunehmend leid, deren Geburtstag am 23. Januar zu feiern. Die in den 1930er Jahren begonnene Suche nach einem symbolträchtigen Ersatzdatum fand 1961 ein erfolgloses Ende mit der Festschreibung eines fiktiven Herrschergeburtstages in einem Gesetz, das peinlichst die Bezeichnung Nationalfeiertag vermied: „Le jour de la célébration publique de l’anniversaire du Grand-Duc […] est fixé au 23 juin“.16 Soll man in diesem Triumpf des Pragmatismus eine Absage an jede nationale Symbolik oder eine nationale Geschichte überhaupt sehen? Dass genau an diesem Kalendertag im Jahre 1848 die erste demokratische Verfassung des Landes verabschiedet wurde, ist bereits 1973 Marcel Engel aufgefallen. Er schlug vor, den virtuellen Herrschergeburtstag in eine Verfassungsfeier umzuwidmen und gleichzeitig an die Revolution von 1848 zu erinnern: „ein sozialer, freiheitlicher Aufstand des wirklichen Volkes […] gegen die Kamarilla der Regierungsnotablen“.17

Die hier skizzierte Geschichte ist die eines machtlosen Staates, dessen Überleben und Gedeihen von äußeren Mächten abhängig ist. Dies erklärt, weshalb Luxemburg einer der wenigen Staaten ist, die internationale Verträge über die nationale Verfassung stellen.18 Weil sie oft an ihrem ohnmächtigen und unzulänglichem Kleinstaat verzweifeln, tun manche luxemburgische Intellektuelle sich schwer, über diesen und über die Luxemburger Nation nachzudenken sowie den Unterschied zwischen den Begriffen Nation, Nationalstaat und Nationalgefühl zu erfassen. Dabei vergessen sie, erstens, dass auch in Zeiten der Globalisierung der Nationalstaat noch immer der Ort der sozialen Absicherung und der Umverteilung sowie der politischen Aushandlung der Modalitäten dieser Solidarität bleibt. Und zweitens, dass gerade wegen dessen Kleinheit dies verstärkt für ihren Staat gilt, dessen Eigenstaatlichkeit bzw. die daraus resultierenden marginalen Spielräume die Grundlage seines Wohlstands und Wachstums generieren. 

Deshalb sollten wir das Nachdenken über unsere Gesellschaft weder den Verteidigern des gegenwärtigen neoliberalen Trittbrettfahrer-Geschäftsmodells und dem von ihnen betriebenen nation branding überlassen noch den populistischen Kräften, die einem Goldenen Zeitalter Luxemburgs und einer angeblich schon von Karl dem Großen verwendeten Sprache19 nachtrauern.  

  1. https://tinyurl.com/IGD1815 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 26. April 2021 aufgerufen).
  2. Albert Calmes, La création d’un État (1841-1848), Luxembourg, Saint-Paul, 1954.
  3. Zitiert nach Sonja Kmec, „1839“, in: Sonja Kmec u. a. (Hg.), Lieux de mémoire au Luxembourg, Luxembourg, Saint-Paul, 2008, S. 147-152, hier S. 149.
  4. Guy Rewenig, „Festung und Waffe: die Heimatsprache. Über den Zusammenhang von Sprache und Identität“, in: forum 58, September 1982, S. 19-22, hier S. 19.
  5. Denis Scuto, La nationalité luxembourgeoise, Bruxelles, Éditions de l’Université de Bruxelles, 2012, S. 107-112.
  6. Albert Calmes, La restauration de Guillaume Ier, roi des Pays-Bas, Bruxelles, Edition universelle, 1947, S. 367.
  7. Calmes, La restauration, S. 283.
  8. Baron de Blochausen in einer Adresse an den König, 21. Oktober 1840, zitiert in: Calmes, La Création, S. 33.
  9. Peter Gilles, „Komplexe Überdachung II: Luxemburg. Die Genese einer neuen Nationalsprache“, in: Joachim Herrgen/Jürgen Erich Schmidt (Hg.) Sprache und Raum – Ein Internationales Handbuch der Sprachvariation, Berlin, De Gruyter Mouton, 2018.
  10. Journal de la ville de du Grand-Duché de Luxembourg vom 24. August 1842.
  11. Ebd. 
  12. https://tinyurl.com/Grimm1846
  13. Peter Klein, Die Sprache der Luxemburger, Luxemburg, Victor Bück, 1855, S. 4.
  14. Fernand Fehlen, 1848-1919: „Lëtzebuergesch in Ständerat und Kammer“, in: Claude Frieseisen/Pauly Michel/Marie-Paule Jungblut (Hg.): Un florilège de débats parlementaires luxembourgeois (1848-2008), Luxembourg, Imprimerie Centrale, 2019, S. 271-293.
  15. https://tinyurl.com/BattyW 
  16. Arrêté grand-ducal du 23 décembre 1961. 
  17. Marcel Engel, „Nationalfeiertag“, in: d’Lëtzebuerger Land vom 22. Juni 1973, S. 2.
  18. Luc Heuschling, „Les origines au XIXe siècle du rang supra-constitutionnel des traités en droit luxembourgeois: l’enjeu de la monarchie“, in: Isabelle Riassetto (Hg.) Liber amicorum Rusen Ergeç, Luxembourg, Pasicrisie Luxembourgeoise, 2017, S. 157–216.
  19.  

https://www.facebook.com/nee2015.lu/photos/1882546068472547

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