Die öffentliche Meinung gibt es nicht, sie wird gemacht. Zum Beispiel durch TNS-Ilres und ihre pro Jahr zweimalige Momentaufnahme der politischen Kräfteverhältnisse (Sonndesfro). Die November-Ausgabe verkündet eine nie dagewesene Neuverteilung der Parlamentssitze. „Du jamais vu“ – wie es so schön auf Luxemburgisch hieß: Piraten und ADR gewinnen je drei Sitze. Die DP verliert vier Sitze und die CSV zwei. Die LSAP gewinnt einen Sitz, während die Linke einen verliert.1 Dies ist eine Steilvorlage für alle Kommentatorinnen und Kommentatoren: Das Plagiat des Premiers, das gebrochene Versprechen eines Verfassungsreferendums, die Pandemiemüdigkeit, die internen CSV-Streitereien, das Piraten-Zugpferd Sven Clement usw. müssen als Erklärung herhalten. Auch wenn immer wieder betont wird, die Ergebnisse seien „mit Vorsicht zu genießen“, werden sie gleichzeitig als Ausdruck „einer stillen Revolution“ oder gar als allgemeiner Wertewandel interpretiert.2
An dieser Stelle soll eine andere These vertreten werden: Der angebliche Tsunami ist ein Artefakt, das hauptsächlich auf die längst bekannten und viel kritisierten Besonderheiten des Wahlsystems zurückzuführen ist, das die Sitzverteilung – insbesondere in den kleinen Wahlbezirken – zur regelrechten Restsitzlotterie macht. Schwankungen im Bereich des statistischen Rauschens, das jeder Umfrage innewohnt, können rein zufällige Sitzwanderungen bewirken, die sich genauso zufällig summieren oder gegenseitig aufheben können. Zusätzlich ist das Panaschieren ein Albtraum für die Demoskopen.
Die Abbildung zeigt das Ergebnis für die kleinen Parteien, sowohl in Prozent als auch in Sitzen. Das Auf-und-Ab der Linken bzw. der ADR passt zur These des statistischen Rauschens, die Steigerung der Piraten von 5,9 % auf 11,3 % bzw. von einem auf sechs Sitze im Laufe eines Jahres beruht unter Umständen auf einem anderen methodologischen Problem. Die Stichprobe ist eine Quotenstichprobe; das heißt, verschiedene Merkmale der Stichprobe (Alter, Geschlecht, Bildung und Wahlbezirk) müssen die Verteilung der Grundgesamtheit möglichst genau abbilden. Dies verhindert aber nicht, dass andere Faktoren zu einer systematischen Abweichung führen. 30 % der Antworten kommen über das Online-Marktforschungspanel mypanel.lu. Es leuchtet ein, dass hier überdurchschnittlich viele webaffine, wenn nicht sogar piratenaffine Menschen zu finden sind.
Nach der letzten Wahl hat das TNS-Ilres-Institut seine Berechnungsmethode und Kommunikationsstrategie gewechselt und veröffentlicht keine Prozentergebnisse auf Bezirksebene mehr. Deren Offenlegung würde die Transparenz steigern und das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Sonndesfro-Umfrage nur eine Momentaufnahme der politischen Entwicklung ist, die zudem unscharf und verwackelt ist. Unscharf durch statistische Streuung und verwackelt durch systematische Verzerrungen.
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- https://www.rtl.lu/news/national/a/1824976.html (letzter Aufruf: 6. Dezember 2021).
- https://tinyurl.com/StilleRev (letzter Aufruf: 6. Dezember 2021).
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