Die Alphabetisierung in Luxemburgisch als Zukunftsprojekt

Vor nunmehr fast zehn Jahren habe ich in zwei forum-Artikeln über die Möglichkeiten einer Alphabetisierung in Luxemburger Sprache nachgedacht. Dies war nur ein Aspekt meiner damaligen Auseinandersetzung mit der Reform des Sprachenunterrichts, in der ich u. a. folgende Thesen vertrat: 1) Luxemburgisch wird in der Schule über seine curriculare Rolle hinaus eingesetzt, ohne als Sprache unterrichtet zu werden. 2) Für den sozialen Aufstieg der Migrantenkinder spielt die Luxemburger Sprache eine wesentliche Rolle. 3) Die historisch gewachsene Dreisprachigkeit wird nur sehr bedingt in der Privatwirtschaft verlangt und taugt nicht mehr als Zielvorgabe für den Sprachenunterricht. 4) Durch ihre unrealistischen Anforderungen wird die Schule zur Sprachenfalle. 5) Die erforderliche Umgewichtung der Sprachen wird auf Kosten des Deutschen und zu Gunsten von Luxemburgisch und Englisch geschehen.

Da ich weder Schulpraktiker noch Didaktiker bin, war mein Anliegen eigentlich ein sprachenpolitisches und ich habe die Alphabetisierung in der Luxemburger Sprache als einen weiteren, logischen Schritt der sprachhistorischen Entwicklung des Landes gesehen, wohlwissend, dass dieser 2007 nicht auf der Tagesordnung stand. Deshalb kann ich den Einwand, damit der Luxemburger Sprache zu viel abzuverlangen, durchaus nachvollziehen. Er trifft jedoch nicht den Kern meiner Argumentation, die hier unter besonderer Berücksichtigung der seitdem eingetretenen Veränderungen und vorgebrachten Gegenargumente wieder aufgegriffen werden soll.

Eine neue Gewichtung der vier Sprachen

Die Zahl der Schüler, die Luxemburgisch als erste Familiensprache haben, nimmt dramatisch ab. Im Schuljahr 2006/2007 waren es 52%, 2014/2015 sind es nur mehr 38%. Auch wenn inzwischen eine Reform der Grundschule stattgefunden hat, sind Curricula und Methoden weiterhin auf Luxemburger Kinder zugeschnitten, die zu Hause Luxemburgisch sprechen und Deutsch über den Medienkonsum gelernt haben. Das Luxemburger Bildungswesen vermittelt weiterhin eine, historisch gewachsene, mehrsprachige Kompetenz mit den drei Landessprachen, die in verschiedenen Registern zu meistern sind, sowie Englisch als erster Fremdsprache. Diese Mehrsprachigkeit macht Luxemburg zum bewunderten Musterschüler der EU-Sprachenpolitik und beinhaltet einen kulturellen und wirtschaftlichen Mehrwert. Deshalb sei, um ein Missverständnis aus dem Weg zu räumen, betont, dass es nicht darum gehen kann, eine dieser vier Sprachen aus der Schule zu verbannen. Vielmehr bedarf es der Aushandlung eines neuen Gleichgewichts zwischen ihnen, um die Diskrepanz zwischen offiziellen Anforderungen und der schulischen Wirklichkeit zu verringern und somit das hehre sprachliche Bildungsideal auf den Boden der Realität, sprich den Anforderungen der Berufswelt, zurückzuholen. Mittlerweile postuliert die offizielle Politik, dass nicht alle Schüler alle Sprachen gleich gut beherrschen müssen, und es entstehen immer neue Nischenangebote mit atypischen Sprachenprofilen. (Neben Bac International und diversen Filières francophones können als jüngste Beispiele ein Pilotprojekt des deutschsprachigen Mathematikunterrichts im Lycée Joseph Bech und die in diesem Herbst startende Internationale Schule in Differdingen angeführt werden.) Der Vorwurf, diese Diversifizierung stelle eine Kapitulation vor dem „Ultraliberalismus“ dar, sei eine rein utilitaristische Reduktion der Sprachen auf ihre Kommunikationsfunktion und ein Verrat an der nationalen Identität, wurde auch meinem Vorschlag vorgehalten.
Die Neuausrichtung des Sprachenunterrichts wird auch notwendig, weil die französische Sprache in den letzten dreißig Jahren einen tiefgreifenden Funktionswandel in der Luxemburger Gesellschaft erfahren hat. Als 1984 das Sprachengesetz verabschiedet wurde, war sie noch die Prestigesprache der Luxemburger Gesellschaft, die Sprache der Kultur und des schulischen Erfolges in einem sich als frankophon verstehenden Staat. Heute ist sie in den Augen der meisten jungen Luxemburger eine Fremdsprache und steht in einer aussichtslosen Konkurrenz mit dem leichter zu erlernenden Englisch, der neuen Weltverkehrssprache in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Der Französischunterricht wurde „schon immer“ als Folterkammer gebrandmarkt, von einer antideutsch geprägten Kriegs- und Nachkriegsgeneration jedoch toleriert, weil damals der „soziale Fahrstuhl“ diese Sprache einfach voraussetzte. Heute wird er immer offensiver abgelehnt und ein unter Schülern weitverbreiteter Hass auf diese Sprache erscheint als ein nicht intendiertes Nebenprodukt.
Der Ausbau geht weiter

In der öffentlichen Diskussion wird immer wieder verdrängt, dass die erst Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Luxemburger Sprache, wie die meisten europäischen Sprachen, eine typische Ausbausprache ist: eine Sprache, die nicht „auf Grund der Besonderheit ihrer Substanz“, sondern durch ihre „soziologische Verselbständigung“ zur Kultursprache wurde. Die hier vorgeschlagene Alphabetisierung in der Luxemburger Sprache stellt einen weiteren Ausbauschritt dar und ist nicht ohne eine weitere Standardisierung und Grammatikalisierung zu leisten. Trotz einer fehlenden, zupackenden staatlichen Sprachenplanung sind allenthalben quasi naturwüchsige, stetige Ausbaufortschritte zu beobachten. Man denke nur an das LOD (Lëtzebuerger Online Dictionnaire), spellchecker.lu, die neuen Anthologien für Grundschule und Gymnasium, die verstärkte Produktion von literarischer Prosa und Sachtexten und überhaupt die Banalisierung der Luxemburger Schriftlichkeit.
Ein wesentlicher Ausbaustimulus geht von der Nachfrage nach Kursen in Luxemburgisch als Fremdsprache aus. Neben der damit einhergehenden symbolischen Aufwertung stellt sie auch einen starken Impuls für die Implementierung von didaktischem Material und eine weitere Standardisierung der Sprache dar. Ist auch das Prestige der Luxemburger Sprache bei gebildeten Luxemburgern weiterhin gering, so ist dem nicht so bei Ausländern, die Luxemburgisch als Zweitsprache gelernt haben oder sich durch eine moderne kosmopolitische Spracheinstellung auszeichnen. Darüber soll man sich nicht durch die zuweilen manifestierte sprachliche Arroganz in Teilen der immer zahlreicher werdenden französischen Diaspora hinwegtäuschen lassen, sondern dies als Nachhutgefecht einer verunsicherten Sprachgemeinschaft deuten.

Status des Luxemburgischen im Bildungswesen nimmt weiter zu

In den zwei forum-Artikeln wurde der zunehmende Gebrauch des Luxemburgischen als Unterrichtssprache auch dort, wo explizit Deutsch oder Französisch im Curriculum vorgeschrieben ist, als klandestine Präsenz bezeichnet. Auch wenn die empirische Messung dieser Praxis weiterhin ein Tabu zu sein scheint, lässt sich deren weitere Zunahme postulieren. So hat nach dem Regierungswechsel 2004 das Ministerium seine rituellen Appelle, die offiziellen Unterrichtssprachen in der Primärschule zu gebrauchen, ganz eingestellt, was als stillschweigende Tolerierung dieser Praxis interpretiert werden kann. 2010 wurde sogar der informelle Gebrauch des Luxemburgischen am Gymnasium in einer Instruction sur l’utilisation de la langue véhiculaire dans l’enseignement luxembourgeois geregelt. Minister Meisch hat jüngst den selbstherrlichen Umgang des Lehrpersonals mit den Lehrplänen beklagt, allerdings am Beispiel des Französischunterrichts, in dem oft früher als vorgesehen mit dem Schreiben begonnen wird: „Dat wat an onsen offiziellen Texter steet, huet oft keng Relevanz fir dat, wat an der Schoul geschitt.“

Als weiterer Beleg für den Vormarsch des Luxemburgischen sei der Erfahrungsbericht von einer Lehrerin angeführt, die an einer Brennpunktschule im Bahnhofsviertel unterrichtet. Sie stellt fest, dass die Förderung des Luxemburgischen im Kindergarten ihre Früchte trägt; dass heute, anders als in den 1980ern, Luxemburgisch und nicht mehr Französisch die Schulhofsprache ist; dass sich die Eltern der Wichtigkeit des Luxemburgischen für die Schullaufbahn ihrer Kinder bewusst sind. Luxemburgisch ist aber nicht, wie geplant, zur Brückensprache für den späteren Deutschunterricht geworden. Zunächst läuft die Alphabetisierung zwar gut, jedoch haben bald viele Migrantenkinder Schwierigkeiten, ihren Wortschatz zu vergrößern und stagnieren auf einer niedrigen Erwerbsstufe. Als Grund gibt sie an, dass diese Sprache im Umfeld der Kinder nicht präsent sei. Die Vermutung, es könnte an der Kommunikation auf Luxemburgisch im Unterricht liegen, äußert sie allerdings nicht.
Die Stunde der kleinen Sprachen

„L’action politique peut intervenir sur le terrain de la langue, et autant elle est faiblement efficace quand elle s’exerce contre les tendances sociales profondes, autant elle est puissante, paradoxalement, lorsqu’elle agit dans le sens de ces tendances. C’est, je crois, une loi sociologique qu’on ne découvre pas sans tristesse.“

Manche der Argumente, die 2007 von meinen Kritikern vorgebracht wurden, wirken heute fast schon anachronistisch. Wer würde heute noch behaupten, Luxemburgisch habe keine Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt? Wer mokiert sich noch über „dem Här Juncker säi Lëtzebuergesch-Congé“? Wer beschwört heute noch die Mischkultur? Wer bezeichnet die Luxemburger Sprache als „eine leblose Worthülse mit dem Realitätsgehalt eines Potemkinschen Dorfes“ oder redet von einer „matière jugée superfétatoire et au contenu évanescent“?

Der einzig sinnvolle Bezugsrahmen und Denkhorizont für eine erfolgsversprechende Sprachenpolitik ist die explizite Sprachenpolitik des Europarates mit der Charta der Regionalsprachen und dem vielgeschmähten Sprachenportfolio sowie die (implizite) Sprachenpolitik der EU, die hinter ihrer Zielvorgabe „Muttersprache plus zwei Fremdsprachen“ Englisch als europäische Lingua Franca fördert. Die gewachsene Mehrsprachigkeit muss in diesem Rahmen neu bestimmt werden. Dabei kann das Großherzogtum sich nur am Beispiel anderer kleiner EU-Mitglieder orientieren, man denke an Malta mit seiner Zweisprachigkeit mit Englisch und Maltesisch, das sich in einem mehr als hundert Jahre dauernden Prozess gegen Italienisch, der traditionellen Bildungssprache der Insel, durchgesetzt hat. Man denke an Irland und dessen Revitalisierungspolitik des Gälischen. Die im Rahmen der EU-Logik selbstverständliche Anerkennung des Luxemburgischen als EU-Amtssprache wäre ein weiterer Ausbauschritt, der vom politischen Mainstream genauso wenig angestrebt wird wie die Alphabetisierung.

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