- Gesellschaft, Politik
Die Zufriedenen und die Verdrossenen
Überlegungen zum Begriff der „80-20-Prozent-Gesellschaft“
Nachdem 2015 im Referendum 78% der Wähler das Ausländerwahlrecht und 81% die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre abgelehnt hatten, erschien vielen das Land in zwei unversöhnliche Lager gespalten. Die unmittelbar nach dem Referendum publizierten Kommentare sprachen von einer Entfremdung zwischen der Mehrheit des Volkes und der „politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Elite“, den „forces vives“, wie Robert Goebbels sie nannte und aufzählte: „Intellektuelle, Künstler, Vorzeige-Unternehmer, Handelskammer, Salariatskammer, Gewerkschaften, Zivilgesellschaft, praktisch die gesamte geschriebene Presse“1. Seitdem hat sich der Begriff der 80-20-Prozent Gesellschaft eingebürgert, um diesen Sachverhalt zu beschreiben. Der 80-20-Clivage wurde zur griffigen Floskel im typischen Luxemburger Presse-Deutsch, weil er in Anknüpfung an den französischen Begriff des clivage social den politikwissenschaftlichen Fachbegriff des Cleavage für die Luxemburger Alltagssprache verfügbar macht, ihn gleichzeitig aber jeder Trennschärfe beraubt. Gibt es diese beiden Lager wirklich und stellt der angebliche Riss zwischen ihnen eine Konfliktlinie im Sinne des Cleavage-Ansatzes dar?
Alte und neue Konfliktlinien
„Als Cleavages werden nur tiefgreifende, über eine längere Zeit stabile, konflikthafte und institutionalisierte gesellschaftliche Spaltungslinien angesehen.“2 Wie in der Einleitung ins Dossier ausgeführt, werden vier Hauptkonfliktlinien unterschieden, entlang denen sich die westeuropäischen Parteien gebildet haben: „Kirche versus Staat“ sowie „Arbeit versus Kapital“ sind die beiden Hauptgegensätze, die das westeuropäische Parteiensystem des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Heutzutage büßen sie aber immer stärker an lebensweltlicher Bedeutung für die Wähler ein, was zur Auflösung der früher beobachtbaren, oft lebenslangen Parteienbindungen führt. Den sich traditionell über diese beiden Konfliktlinien definierenden Parteien, wie etwa CSV und LSAP, wird eine Neuorientierung abverlangt. Der dritte klassische Gegensatz „Stadt versus Land“ bzw. „Agrar- versus Industrieinteressen“ wurde in Luxemburg durch die beiden erstgenannten Gegensätze überwölbt. Gleiches gilt in noch verstärktem Maße für die vierte Konfliktlinie „Zentrum versus Peripherie“, da es im kleinen Luxemburg wenig Raum für damit gemeinte ethnische und kulturelle Konflikte gab.
Da die Kinder des Wirtschaftswunders die traditionellen Werte ihrer Eltern ablehnten, entstand in den 1970er Jahren ein neuer, durch den Gegensatz zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten gezeichneter Cleavage, der zur Entstehung der ökologischen und feministischen Bewegung sowie der Grünen Parteien führte.
Praktisch zeitgleich entstand in Luxemburg die ADR-Partei, zunächst ab 1987 als Ein-Punkt-Bewegung mit dem Anliegen, Rentengerechtigkeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor herzustellen. Sie stellt ein Lehrbeispiel für den Cleavage-Ansatz dar, da sie die von ihm postulierten drei Etappen der Parteienbildung gut illustriert. Zunächst gab es Gruppen mit gegensätzlichen Interessen; hier genau zwei, was die konfliktuelle Aufladung des Gegensatzes vereinfachte. Es gab eine schon lange konstituierte Selbst- und Fremdwahrnehmung der beiden Gruppen (die eine ruhige Kugel schiebenden Staatsdiener versus die schaffende Bevölkerung), die es nur noch in einer auf den Sozialneid fokussierenden Kampagne zu aktualisieren galt. Die 1989 auf Anhieb erreichten vier Parlamentssitze und der anhaltende Erfolg (1999: 7 Sitze!) schafften den dritten Schritt der Institutionalisierung, d.h. eine Verankerung im Parteienspektrum und eine Stammwählerschaft von „älteren um ihre soziale Sicherheit bangenden Menschen, die sich von der Politik vernachlässigt und von den Erträgen des Wirtschaftsbooms ausgeschlossen fühlten“3. Der Begriff Modernisierungsverlierer stellt eine sicher vereinfachende, aber doch griffige Charakterisierung dieser Klientel dar. Nachdem das Uranliegen durch die Rentenreform größtenteils obsolet geworden war, bedurfte es einer hauptsächlich von Fernand Kartheiser getragenen thematischen Erneuerung. Seit dem Wahlkampf 2009 traten wertkonservative, identitäre und sprachpatriotische Themen in den Vordergrund. Diese können – genauso wie die virulente Opposition gegen die Trambahn – als Verweigerungshaltung gegen die zunehmende Globalisierung der Luxemburger Wirtschaft und den damit einhergehenden sozialen Wandel verstanden werden. Trotzdem blieb der Erfolg aus (2009: 4 Sitze; 2013: 3 Sitze).
Die Trittbrettfahrer der Globalisierung
Das System der parlamentarischen Demokratie ist heute in einer Sackgasse angelangt, da die Nationalstaaten, auf denen es beruht, in ihren Handlungsspielräumen und Machtbefugnissen immer stärker eingeschränkt werden. Oder mit den Worten des soeben 91-jährig verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman: „The world is marked by a division between power and politics. While politics is defined by nations, power no longer recognises national boundaries.”4 Die Macht wird ungreifbar, liquide, löst sich auf in Märkten und im Cyberspace. Nach Bauman zerfällt die Menschheit in zwei Lager, die Globalisierungsgewinner, die globals, und die Globalisierungsverlierer, die locals. Während die Ersten eine immer größere Freiheit genießen, in ihren Bewegungs- und sons-
tigen Möglichkeiten, werden Letztere immer stärker eingeschränkt und zurückgeworfen auf ihre lokale Verwurzelung, die als sicherheitsspendender Strohhalm erscheint. Mit diesem – eingestandenermaßen etwas holzschnittartigen – Modell erklärt Bauman das Aufkommen des Populismus als Antwort auf Ohnmachtserfahrung.
Die Macht des Finanzkapitals beruht auch darauf, dass es die einzelnen Staaten in ein Konkurrenzverhältnis setzt, um so die günstigsten Bedingungen für seine Verwertung heraus zu schlagen. Davon profitiert der Kleinstaat Luxemburg, indem er die wenigen noch verbleibenden Souveränitätsnischen ausreizt und es so geschafft hat, sich zu einer der reichsten Nationen weltweit, gemessen am BIP pro Kopf, aufzuschwingen. Der zu zahlende Preis ist eine von der nationalen Politik kaum zu beeinflussende Wachstumsspirale und das Odium der Steueroase. Noch tiefgreifender ist eine Verflüchtigung der Luxemburger Gesellschaft, im Sinne von Baumans liquid society. „Laksembörg City“ (Serge Tonnar) wird zur globalen Stadt, bevölkert von einer transnationalen Diaspora aus Bankern, Finanzangestellten, Dienstleistern sowie Eurokraten. Und dazwischen die Alteingesessenen, die versuchen, ihr Stück vom Kuchen abzubekommen.
Dies geht am einfachsten, wenn man einen geerbten Kartoffelacker zum Bauland machen kann oder eine vermietbare Wohnung besitzt. Wer das Immobilien-Monopoly in der Rolle des Käufers oder Mieters mitspielen muss, gerät in einen Verdrängungswettbewerb mit den Expats. Das Wort Verdrängung ist hier wörtlich zu nehmen, da die weniger potenten Wohnungssuchenden in abgelegenere und daher billigere Gegenden des Landes oder gar in die Grenzregionen der umliegenden Länder verbannt werden. Die Umverteilung des Reichtums zugunsten der Alteingesessenen funktioniert auch über den Arbeitsmarkt. Die Verankerung in der Luxemburger Gesellschaft sowie die Beherrschung einer spezifischen Sprachenkompetenz, wie sie in der Luxemburger Schule unterrichtet wird, ermöglicht den Zugang zu einem gut bezahlten, geschützten Segment des Arbeitsmarktes (secteur protégé), das hauptsächlich aus dem öffentlichen Dienst, dem Sozial- und Gesundheitswesen, sowie anderen parastaatlichen Unternehmen besteht. Besonders bei gering Qualifizierten wird die Luxemburger Sprache zum Wettbewerbsvorteil. Den dritten Umverteilungsmechanismus stellen die Sozialtransfers dar, die, zumindest was die Renten anbelangt, auch zu Gunsten der Alteingesessenen gehen.5 Doch welche politischen Auswirkungen hat dieser sozialstrukturelle Wandel?
Kein 80/20 Cleavage…
Praktisch die Hälfte der Wohnbevölkerung und die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung ist von den Wahlen ausgeschlossen. Deshalb kommt in der Wahlbevölkerung die Konfliktlinie zwischen Alteingesessenen und Neuhinzugekommenen, zwischen Sesshaften und Nomaden, zwischen Migranten und Transmigranten nur bedingt zum Tragen. Die materiellen Interessen der vom Wahlgeschehen Ausgeschlossenen werden von den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden vertreten und von einer kleinen Bewegung von Bildungsbürgern, Kulturschaffenden und deren Aushängeschild ASTI in die politische Debatte hineingetragen. Dies geschieht aber oft in einem moralisierenden, paternalistischen Ton, der zur Ethnisierung des politischen Diskurses und zu einer Verschleierung der sozialen Konfliktlinien führt.
Vor einer nationalen Wählerschaft, die zu einem Großteil selber Migrationserfahrung und eine positive Integration in die Luxemburger Gesellschaft erlebt hat – ca. ein Zehntel der zur Wahl aufgerufenen Luxemburger sind selber Einwanderer und ca. ein Viertel hat zumindest einen eingewanderten Elternteil6 –, haben ausländerfeindliche Argumente wenig Bestand. Deshalb wurden solche zur Ablehnung des Ausländerwahlrechts auch selten offen angeführt. Neben vielen anderen Faktoren war eine jedem Referendum innewohnende Unwägbarkeit ausschlaggebend: Das Volk beantwortet meist eine nicht gestellte Frage. So auch 2015 in Luxemburg, wo das Ergebnis zum großen Teil als Ablehnung der Dreier-Koalition zu interpretieren ist, besonders bei DP-Wählern, die sich zum Teil regelrecht von der
Koalitionsentscheidung ihrer Partei verraten fühlten. Die hohe Korrelation zwischen den drei Fragen kann als Beleg dafür gelten.
Obwohl es kein homogenes Lager von 80% Nein-Sagern gibt, hat der Begriff des „80-20-Clivage“ sich eingebürgert, u.a. weil oppositionsfreundliche Medien damit unterstellen können, das Stimmengewicht der Gambiakoalition sei auf 20% geschrumpft. So traktierte das Luxemburger Wort in seinen Sommerloch-Interviews die Politiker mit der Frage „80 Prozent oder 20 Prozent?“.7 Mit der Betonung dieser Proportion können sich die Wortführer des Nein als Vertreter der „Mitte der Gesellschaft“ hinstellen und vergessen, dass sie nur einen kleinen Teil der Nein-Sager repräsentieren. Die wahre Mitte findet sich innerhalb der übergroßen, mit der eigenen Wirtschaftslage und der des Landes zufriedenen Mehrheit. 86% nach einer rezenten Umfrage.8 Wenn man diese Zahl nach unten abrundet, was sich nach der Unterschätzung der Nein-Stimmung beim Referendum aufdrängt, kommt man zu einer anderen 80-20-Prozent-Gesellschaft und innerhalb des Fünftels – oder vielleicht auch Viertels – der Unzufriedenen findet sich die verbitterte Klientel der Populisten.
… jedoch eine neue Konfliktlinie
Unter ihnen finden sich die „entschiedens-ten Gegner“ des Ausländerwahlrechts, wie sie Romain Hilgert beschrieben hat. Sie leben „vor allem im Norden des Landes“ in „dünnbesiedelte[n], ländliche[n] Gegenden“. Dort wo „die ärmsten und am wenigsten gebildeten Leute wohnen […], wird oft konservativ gewählt, und selbst wenn die DP präsent ist, sind es Vertreter eines rechten Agrarliberalismus, denen die Bettel, Schneider und Braz in der Hauptstadt nicht geheuer sind“.9
Dieser harte Kern stellt eine Minderheit unter den NEIN-Sagern dar und findet seinen Zusammenhalt über die sozialen Netzwerke. Etwa in der geschlossenen Facebook-Gruppe Neiwahlen Lëtzebuerg mit knapp 6000 Mitgliedern oder auf der Seite NEE 2015, die zur Zeit des Referendums 6600 und heute 7600 Follower hat. Deren Betreiber haben sich inzwischen in NEE 2015/WEE 2050 umbenannt und signalisieren damit ihre weiter gehenden politischen Ambitionen. Einen Vergleich der Aktivitäten auf dieser FB-Seite mit denen auf den Seiten der Parteien zeigt, dass es wesentlich mehr Überlappungen zwischen den Nutzern von NEE 2015 mit der ADR-Seite als mit denen der anderen Parteien gibt.10
Die von NEE 2015/WEE 2050 mitgetragene Petition 698 zur Förderung der Luxemburger Sprache hat eine ähnliche geographische Verankerung wie der harte Kern der Referendum-Nein-Sager. Besonders im Vergleich mit der Gegenpetition 725 zur Erhaltung des sprachlichen Status Quo zeigt sich eine durch den Immobilienmarkt getriggerte territoriale Segmentierung des Landes.11 Diese entspricht dem klassischen „Zentrum versus Peripherie“-Cleavage, der auch als Konflikt zwischen einer Mehrheit und einer kulturell, ethnisch oder sprachlich dominierten Minderheit interpretiert werden kann. Und als sprachliche Minderheit, als „Fremde im eigenen Lande“ fühlen sich die Verfechter der Petition 698. Hilgerts Beschreibung der Nein-Sager des Referendums passt gut zu deren Geisteshaltung: Sie „fühlen sich angesichts der kulturellen Hegemonie der liberalen, weltoffenen und proeuropäischen, Politik und Medien dominierenden Oberschicht kulturell in die Defensive gedrängt und zum Schweigen verurteilt“.
Mit dieser Entwicklung scheint die tendenzielle Auflösung von traditionellen regionalen Unterschieden, wie sie am Ende des 20. Jahrhunderts zu beobachten war, gestoppt und sich – wenn auch in etwas anderer Konfiguration – neu zu bilden. Der „Kirche versus Staat“-Cleavage könnte sogar darin aufgehen, da die religiöse Bindung sich immer mehr durch ein Festhalten an einer traditionellen Dorfgemeinschaft und deren Kirchenfabriken ausdrückt. Wie dies sich auf die Parteien-landschaft auswirken wird, hängt auch von den strategischen Entscheidungen der mittlerweile schon unter sich zerstrittenen Wortführer der Facebook-Patrioten ab. Das komplizierte, wegen des Panaschierens und der Einteilung in vier Wahlbezirke sehr träge Luxemburger Wahlsystem lässt wenig Raum für neue Kräfte. Eine naheliegende Möglichkeit wäre die Kandidatur der führenden Köpfe von NEE2015 auf den ADR-Listen, die dieser Partei einen gewissen Auftrieb geben könnte. Sollten sie jedoch mit eigenen Listen antreten, wäre ein weiterer Rückgang der ADR vorauszusehen, ein eigenständiger Erfolg aber von den Zufällen der Wahlarithmetik abhängig.
Unabhängig von deren parteipolitischer Institutionalisierung wird die Konflikt-linie „Zentrum versus Peripherie“, zufriedene Mitte versus von der Umverteilungspolitik real oder vermeintlich Vergessene als Sollbruchstelle in der Wahlbevölkerung bestehen bleiben. Sollte das Wirtschaftswachstum einbrechen und die Umverteilungsmaschine ins Stocken geraten, könnte dies unerwartete Auswirkungen haben.
1 Robert Goebbels, „Waterloo im Gambia-Land“, in: Luxemburger Wort, 09.06.2015.
2 Oskar Niedermayer, „Gesellschaftliche und par- teipolitische Konfliktlinien“, in: Steffen Kühnel, Oskar Niedermayer und Bettina Westle (Hg.), Wähler in Deutschland, Wiesbaden, VS Verlag, 2009, S. 30–67. Hier S. 30.
3 Dumont, Patrick; Fehlen, Fernand; Poirier, Philippe: „Parteiensystem, politische Parteien und Wahlen“, in: Wolfgang H. Lorig (Hg.), Das politische System Luxem- burgs, Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwissenschaften, 2008, S. 155–189. Hier S. 169.
4 http://tinyurl.com/bauman-citation
5 Fernand Fehlen, „Sozialstruktur und sozialer Wan- del“, in: Helmut Willems (Hg.), Handbuch der sozialen und erzieherischen Arbeit in Luxemburg, Luxemburg, Éd. Saint-Paul (Bd. 1), 2009, S. 129–142. Fernand Fehlen, „La transnationalisation de l’espace social lux- embourgeois et la réponse des autochtones“, in: Michel Pauly (Hg.), Asti 30, Binsfeld, Luxembourg, 2010, S. 152-167.
6 http://tinyurl.com/Migra-Lux
7 Felix Braz, „Evolution statt Revolution”, in: Luxemburger Wort, 24.08.2016.
8 http://www.rtl.lu/letzebuerg/996111.html
9 Romain Hilgert, „Das Desaster“, in: d’Lëtzeburger Land, 12.06.2015.
10 http://infolux.uni.lu/facebook_nee2015/
11 http://infolux.uni.lu/petitiounen_geographesch/
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