Diskriminierung in Luxemburg und anderswo

Soziologische Zugänge

Was ist Diskriminierung? Wie funktioniert sie? Wie ist es möglich, dass in einem Land, das sich als multinational und multikulturell versteht und diese Offenheit zu seinem Markenzeichen erhebt, noch immer diskriminiert wird? Welche Antworten hat die Soziologie auf diese Fragen zu bieten?

Der Elefant und sein Reiter

Diskriminierung beginnt mit Unterscheidung. Wir und die Anderen. Wir sind natürlich die Guten, die Anderen sind im Zweifelsfall die Bösen. Unbekannte Fremde erscheinen zunächst als bedrohlich, weil sie als unberechenbar gelten. Wer als anders wahrgenommen wird, hat zunächst einen schweren Stand; muss beweisen, dass er dazugehört. Dies sind die unerbittlichen Spielregeln, die die Menschheit früher in der „wilden Natur“ gelernt hat und wie sie auch heute noch auf dem Schulhof zum Tragen kommen. Doch dieser anthropologische Zugang zum Thema ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Während seit jeher die Philosophie über die „Natur des Menschen“ reflektiert, beackern heute die Sozialpsychologie und die Neurowissenschaften dieses Terrain. Deren Ergebnisse können hier nur angedeutet werden, z. B. mit der Metapher des Elefanten, der für Instinkte und Gefühle steht, und seinem Reiter, der versucht, ihn nach rationalen Überlegungen zu steuern.1

Die sozialpsychologische Vorurteilsforschung hat einen Test entwickelt, der zeigt, wie schwer es ist, sich gegen eine instinktive Abwehr gegen das Unbekannte, Ungewohnte und somit vermeintlich Bedrohliche zu wehren. Der sogenannte implizite Assoziationstest zeigt, dass in der Regel Abbildungen weißer Gesichter und „weiße“ Namen (Paul, Nancy) positiver konnotiert werden als diejenigen schwarzer Gesichter und „schwarze“ Namen (Tyrone, Latisha). Bemerkenswert ist, dass dies auch Menschen tun, die explizit von sich behaupten, sie würden der Hautfarbe keine Bedeutung zumessen. Ich habe mich vor dem Schreiben dieses Textes einem Online-Selbstversuch unterzogen, den ich jedem nur empfehlen kann.2 Unabhängig von der Frage nach der Entstehung von Stereotypen, Vorurteilen und individueller Diskriminierung zwischen Einzelpersonen rückt die Soziologie die vielfältigen institutionellen und strukturellen Formen sozialer Diskriminierung sowie deren Auswirkungen, aber auch deren Bekämpfung ins Zentrum ihrer Überlegungen. Und darum soll es hauptsächlich in diesem Beitrag gehen, ohne zu vergessen, dass die Grenze zwischen Mikro- und Makrobetrachtungsweise fließend ist.

Rassismus ohne Rassen

Einen wichtigen, beide Aspekte verbindenden Beitrag lieferten Norbert Elias und John L. Scotson in ihrer Untersuchung gesellschaftlicher Segregation in einer mittleren englischen Industriestadt Ende der 1950er Jahre. Die sozialen Spannungen zwischen zwei Vierteln konnten weder durch ethnische noch durch religiöse oder Schichtenunterschiede erklärt werden. Vielmehr stellte sich bei näherer Untersuchung heraus, dass die stigmatisierten Außenseiter erst nach dem Zweiten Weltkrieg zugezogen waren. Die Alteingesessenen, die Autoren nennen sie die „Etablierten”, entwickeln ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Neuankömmlingen. Sie hatten über Generationen in ihrer Gemeinde „eine gemeinsame Lebensweise und einen Normenkanon ausgebildet“.3 Sie zogen Vorteile aus ihren gewachsenen Beziehungen und ihrem Informationsvorsprung. Um den eigenen Zusammenhalt zu erhalten und die daraus resultierenden Privilegien zu verteidigen und zu legitimieren, neigte die Etabliertengruppe dazu, die Neuen mit einem einfachen Mechanismus zu stigmatisieren. „Der Außenseitergruppe insgesamt [werden] die ‚schlechten‘ Eigenschaften der ‚schlechtesten‘ ihrer Teilgruppen [zugeschrieben]. Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten‘ Mitglieder […] geprägt.“4 Man denke nur an das „Wir sind Papst“ unserer deutschen Nachbarn oder die Tour de France-Begeisterung vieler Luxemburger, als die Schleck-Brüder auf den vorderen Plätzen mitfuhren.

Jedem Machtgefälle obliegt die Notwendigkeit, sich zu legitimieren. Albert Memmi, ein Pionier der Kolonialismusforschung, sieht hier den Ursprung der Rassentheorie, die „erfunden“ wurde, um die koloniale Ausbeutung zu erklären und zu rechtfertigen. Seine klassische Definition des Rassismus lautet: „Le racisme est la valorisation, généralisée et définitive, de différences réelles ou imaginaires, au profit de l’accusateur et au détriment de sa victime, afin de justifier ses privilèges ou son agression“.5 Obwohl die moderne Genetik gezeigt hat, dass es keine Rassen gibt, da die genetischen Unterschiede innerhalb der vermeintlichen Gruppen größer sind als zwischen den Gruppen, besteht der Rassismus weiter fort. Da das Muster und die Motivation immer dieselben sind, hat sich die Formulierung „Rassismus ohne Rassen“ eingebürgert, wenn es gilt, die Ausgrenzung einer Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft zu beschreiben.

Oder in der Sprache der modernen Diskriminierungsforschung, wie sie im deutschsprachigen Standardwerk „Handbuch Diskriminierung“ zusammengefasst wird: „Diskriminierung geschieht durch Unterscheidungen, die Unterschiede behaupten und in Ungleichheiten verwandeln.“6 Diskriminieren heißt also nicht nur andere benachteiligen, sondern deren Anderssein überhaupt erst durch Überbetonen realer oder vermeintlicher Unterschiede zu schaffen. Dies geschieht nicht nur durch bewusstes individuelles Handeln, sondern auch in alltäglichen Denkmustern, routinisierten Abläufen von Verwaltungen. Manchmal ist es gar in gesetzlich-administrativen Abläufen festgeschrieben (z. B. die geschlechtliche Binarität der Personenstandsregister).

Im Gegensatz zu dem moralisierenden, die Polemiken in sozialen Netzwerken beherrschenden Diskurs zeigt die Soziologie, dass die „Mechanismen institutioneller Diskriminierung unabhängig von individuellen Vorurteilen oder negativen Absichten operieren“ und nicht als die „Summe diskriminierender Einstellungen und Handlungen vorurteilsbehafteter Individuen“ erklärt werden dürfen7. Man denke z. B. an die Perpetuierung der Geschlechterrollen durch die Wirkmächtigkeit einer omnipräsenten Werbung oder an das Bildungssystem, das durch seine Strukturen und seinen heimlichen Lehrplan soziale Hierarchien reproduziert. Trotz des Anspruchs der Chancengleichheit benachteiligt die Schule Kinder aus bildungsfernen Milieus – und das umso mehr, wenn sie aus Migrantenfamilien stammen. Bei gleichen schulischen Leistungen werden sie seltener in allgemeinbildende Schulen orientiert. Selbst kulturell voll integrierte Mittelschichtskinder, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung als fremd wahrgenommen werden, riskieren diskriminiert zu werden.

Im Rahmen einer mittlerweile in nationales Recht umgesetzten EU-Antidiskriminierungspolitik hat sich eine Systematisierung in sechs verschiedene Bereiche etabliert: 1) Die wirkliche oder vermeintliche Zugehörigkeit zu einer Rasse oder ethnischen Gruppe, wobei im heutigen wissenschaftlichen Diskurs Begriffe wie „Rasse“, „Ethnie“, „Nation“, „Volk“ usw. als sozial konstruierte Kategorien angesehen werden und im Alltagsdiskurs oft synonym gebraucht werden; 2) Religion oder Glaubensbekenntnis bzw. politische Überzeugung; 3) Geschlecht; 4) Sexuelle Orientierung; 5) Behinderung; 6) Alter, weil man zu jung oder zu alt ist. Um den Erfolg dieser Politik zu messen, wurde ein Arsenal an Studien durchgeführt, die aber weniger reale Diskriminierungen als deren Wahrnehmung durch die Betroffenen oder die Mehrheitsgesellschaft messen. Dazu gehören regelmäßig erstellte Eurobarometer und Sonderstudien, wie Being Black in the EU, auf die noch zurückzukommen sein wird.

Und in Luxemburg?

An dieser Stelle lässt sich schlussfolgern, dass es Diskriminierung auch in Luxemburg gibt. Denn auch „bei uns“ existieren Machtgefälle, die es zu legitimieren, und Ungleichbehandlung, die es zu entschuldigen gilt. Die Frage lautet eher: Woher kommt die Vorstellung, dass „bei uns“ alles besser ist und Luxemburg eine diskriminierungsfreie Zone, eine Insel der Glückseligen sei? Sie ist Teil des Nation Branding, mit dem die Regierung Touristen, Kunden, Arbeitskräfte und Kapital anlocken will. Die praktisch zur Staatsräson erhobene Ausländerfreundlichkeit und Offenheit sind somit genauso wie das Ausreizen von verbleibenden Souveränitätsnischen eine der Grundlagen des nationalen Geschäftsmodells.

Hinter der Multikulti-Inklusions-Fassade versteckt sich jedoch ein wahrer Kern: die gelungene Integration von vielen sukzessiven Einwanderungswellen, die durch das stetige Wachstum der Wirtschaft gefördert und durch die Kleinheit des Landes zusätzlich erleichtert wurde. Das Luxemburg des 20. Jahrhunderts entspricht dem von Modernisierungstheorien eingeführten Modell der Aufstiegspumpe: Durch den sozialen Aufstieg freigewordene untere Plätze der Gesellschaft werden durch Neuhinzugekommene aufgefüllt, die ihrerseits am Aufstieg teilnehmen. Somit stellt Luxemburg ein mustergültiges Beispiel der von Elias und Scotson entwickelten Theorie dar: Die 53 % Luxemburger von heute sind zu einem Großteil Einwanderer von gestern – und diskriminiert werden hauptsächlich die zuletzt Gekommenen. Die Verweildauer und die mit ihr einhergehende Verankerung in der Gesellschaft werden zu einer Ressource, zu einem regelrechten Verankerungskapital.8

Die 47 % Ausländer dürfen nicht als einheitlicher Block missverstanden werden. Nicht nur, weil sie aus mehr als 160 veschiedenen Staaten kommen, sondern hauptsächlich, weil sie verschiedenen transnationalen, sozialstrukturellen Lagen zuzurechnen sind.9 Neben den im vorigen Absatz erwähnten traditionellen Arbeitsmigranten sind ein Großteil von ihnen hochqualifizierte „Expatriates“ in den globalen Unternehmen und EU-Institutionen, die nicht mit den Einheimischen um lokale Arbeitsplätze in Konkurrenz treten. Als Weltbürger in der „Provinz“ stehen sie über den lokalen Konflikten, als Durchreisende nehmen sie nur die Rudimente der lokalen Kultur und der drei Landessprachen zur Kenntnis, die für den Alltag notwendig sind.

Genauso wenig in das klassische Migrationsmodell passen die vielen Grenzpendler, die zwar einen notwendigen Teil des Wirtschaftslebens darstellen, weitgehend aber von den politischen Entscheidungsprozessen und den nationalen Debatten ausgeschlossen bleiben. Da deren Anteil in der Gruppe der Geringverdiener besonders hoch ist, kann man sagen, dass ein Teil der sozialen Problemlagen exportiert wird. Eine rezente Studie des STATEC zeigt, dass sie auf allen Qualifikationsstufen weniger verdienen: Grenzpendler mit Abitur verdienen im Schnitt 30 % weniger als Luxemburger mit Abitur und genauso viel wie Luxemburger ohne.10 Das soziale Konfliktpotenzial, das hierin angelegt ist, wird dadurch entschärft, dass für die meisten die Beschäftigung in Luxemburg das Ergebnis eines Trade-Off der persönlichen Lebensplanung ist und vermutlich als positiv erlebt wird.

Auch wenn es in Luxemburg keine ausgewiesene Konfliktlinie zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten gibt, so gibt es sicher auch Globalisierungsverlierer auf beiden Seiten, die sich bei einer schlechteren Konjunkturlage nicht so einfach durch das multikulti Eiapopeia des Nation Branding einlullen lassen werden.

Being Black in Luxembourg

Von der Luxemburger Presse zunächst ignoriert und im Januar 2019 in forum kurz vorgestellt, hat die Being Black in the EU-Studie dazu beigetragen, die Diskriminierung dunkelhäutiger Menschen auf die politische Agenda zu setzen. Hauptauslöser für das verspätete Interesse war die unter der Federführung der ASTI im November 2019 organisierte Konferenz Being Black in Luxembourg11. Die dort auftretenden Frauen mit kapverdianischen Wurzeln fühlten sich durch das desaströse Abschneiden Luxemburgs als eines der rassistischsten Länder der EU12 ermächtigt, um über den von ihnen erfahrenen Alltagsrassismus zu reden. Die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, allen voran die Integrationsministerin, sahen sich genötigt, diesen Alltagsrassismus zur Kenntnis zu nehmen und nicht mehr als vernachlässigbare Summe bedauernswerter Einzelfälle abzutun. Verstärkt durch das Echo auf die Black Lives Matter-Bewegung in Form einer beeindruckenden Demonstration vor der amerikanischen Botschaft hat die Regierung im Verein mit dem Parlament wissenschaftliche Studien und Empowerment-Maßnahmen angekündigt. Eine vom MNHA für 2022 angekündigte Ausstellung verspricht eine überfällige Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit: Neben der bekannten Beteiligung an der belgischen Kolonialisierung des Kongo soll auch an ein gänzlich in Vergessenheit geratenes, in den 1930er Jahren von luxemburgischen Ingenieuren betriebenes Baumwollunternehmen des großherzoglichen Prinzgemahls Felix in Mosambik erinnert werden.

Die empirische Sozialforschung weiß, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Diskriminierung sowie zwischen deren Perzeption durch die Betroffenen und durch die Mehrheitsgesellschaft gibt. Sie weiß auch um die Schwierigkeit der Messbarkeit der Diskriminierung und um die Komplexität von Ursachenforschung. Deshalb sind die in Auftrag gegebenen Studien unerlässlich, auch um die luxemburgischen Besonderheiten zu verstehen. Dennoch sollten die Erwartungen nicht zu hoch sein, da die Bekämpfung aller Diskriminierungen letztlich ein politisches Problem ist und zentral vom Selbstbild der Gesellschaft abhängt.

 

  1. https://www.zeit.de/2020/30/rassismus-alltag-versteckt-vorurteile (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 22. September 2020 aufgerufen).
  2. https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/takeatest.html
  3. Norbert Elias/John L Scotson, Etablierte und Außenseiter, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990, S. 16.
  4. Ebd., S. 13.
  5. Albert Memmi, Le racisme, Gallimard, Paris, 1982.
  6. Albert Scherr, Diskriminierung: Wie Unterschiede und Benachteiligungen gesellschaftlich hergestellt werden, Springer, Wiesbaden, 2015. S. VII.
  7. Mechtild Gomolla, „Direkte und indirekte, institutionelle und strukturelle Diskriminierung“, in: Albert Scherr/Aladin el Mafaalani/Emine Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden, Springer VS, 2016, S. 133-156, hier S. 134.
  8. Fernand Fehlen, „La transnationalisation de l’espace social luxembourgeois et la réponse des autochtones“, in: Michel Pauly (Hg.), Asti 30+, Luxemburg, Binsfeld, 2010, S. 152-167. Zusammenfassung: https://www.forum.lu/article/a-qui-profite-le-boom-economique/
  9. Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleichheiten, Berlin, Suhrkamp, 2017.
  10. https://statistiques.public.lu/catalogue-publications/regards/2020/PDF-14-2020.pdf
  11. https://www.forum.lu/wp-content/uploads/2019/12/401_Pauly.pdf; die Studie ist abrufbar unter https://fra.europa.eu/en/publication/2018/being-black-eu.
  12. Siehe Faktuell in dieser Nummer Seite 14.

 

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