Ein Jahrhundert Panaschieren

Das luxemburgische Wahlsystem und seine Folgen

Das Wahlsystem hat einen tiefgreifenderen Einfluss auf die politische Kultur als allgemeinhin angenommen. Es entscheidet nicht nur über die Machtverteilung zwischen den Parteien, sondern spielt auch eine wesentliche Rolle bei der Auswahl des politischen Personals. Ein Blick zu unseren Nachbarn, ein Vergleich von Proporz- und Majorzsystem und ein Ausflug in das Revolutionsjahr 1918 helfen die Tücken des Panaschierens zu verstehen.

Frankreich und Deutschland haben höchst unterschiedliche politische Kulturen. Hier Zuspitzung und Konflikt, dort Sachbezogenheit und Kompromiss. Hier willensstarke, redegewandte Entscheidungsträger, dort eher blasse Verwalter. Hier Macron, dort Merkel.

Ein Blick zu unseren Nachbarn

Ein Jahr nach seinem überwältigenden Wahlsieg sieht sich Präsident Macron mit verschiedenen sozialen Bewegungen konfrontiert, allen voran den streikenden Eisenbahnern sowie Jean-Luc Mélanchons France Insoumise, die sich trotz ihrer nur knapp 3% starken Parlamentsfraktion als Hauptoppositionskraft versteht. Zum Jahrestag seines Amtsantritts wurde unter dem Motto „faire la fête à Macron“ zu einer Demo aufgerufen, um dem „Präsidenten der Reichen“ zu zeigen, was das Volk von seinen auf eine satte Parlamentsmehrheit gestützten Reformen hält.

Dieses Motto enthält Anklänge an die Französische Revolution, deren Geist manchmal wieder wirkmächtig wird, wie etwa bei der Verhinderung der LKW-Maut vor fünf Jahren. Obwohl diese von der rechten Sarkozy-Regierung beschlossen und mit großem logistischen und finanziellen Aufwand von der linken Hollande-Regierung umgesetzt wurde, haben aufrührerische, teilweise mit roten Revolutionsmützen (Bonnet Phrygien) bekleidete Protestierende sowie aufgebrachte Transportunternehmer mit Lasterblockaden und Kriechkonvois sie zu Fall gebracht.

Nicht nur unterschiedliche historische Traditionen in Deutschland und Frankreich, sondern auch der Wahlmodus hat zum Entstehen der jeweiligen politischen Kulturen beigetragen.

Majorz versus Proporz

The winner takes it all! Wer im französischen Wahlsystem in einem Wahlbezirk im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit bzw. im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit bekommt, erhält den Parlamentssitz. Deshalb hat Macrons Partei, zusammen mit der verbündeten MoDem-Partei, mit weniger als einem Drittel der Stimmen weit über die Hälfte der Sitze erhalten. Anders in Deutschland, wo für jedes Bundesland der Anteil der Parlamentssitze gleich dem Anteil der Stimmen einer Partei sein soll und die Mandate – im Wesentlichen – nach der Reihenfolge auf der Parteiliste vergeben werden. Wegen der proportionalen Verteilung der Sitze sind dort Regierungen in der Regel immer Mehrparteienkoalitionen und das Regierungsprogramm basiert auf einem vorab ausgehandelten Kompromiss. Ein Regierungswechsel ist meist nur ein Wechsel des Juniorkoalitionspartners und die weiterregierende Partei sorgt für Kontinuität.

Die Disziplin der Abgeordneten ist im Proporzwahlsystem groß, weil diese auf einen guten Listenplatz angewiesen sind, um wiedergewählt zu werden. Anders in Frankreich: Hat ein Kandidat erstmal eine gute lokale Verankerung, wird er auch ohne die volle Unterstützung seiner Partei wiedergewählt. Der Protest in den eigenen Reihen, der letztlich die Hollande-Regierung handlungsunfähig gemacht hat, erklärt sich aus dem Wahlsystem. Auch hier enthält der Name für die Abweichler (les frondeurs) wieder eine Anspielung auf die große Revolution.

Das Luxemburger Wahlsystem ist ein Proporzsystem. Die diesem Wahlmodus innewohnende ausgleichende Dynamik wird durch die kleine Dimension des Landes noch verstärkt, so dass Luxemburg nicht zu Unrecht oft als Konsensdemokratie gekennzeichnet wird. Und doch enthält sein Wahlsystem Erinnerungen an das bis 1919 gültige Majorzsystem, die den Geist des Notablenregimes bis heute lebendig halten.

1919 – eine getrübte Sternstunde

Wie alle gesellschaftlichen Institutionen ist auch das politische System mit seinen Regeln und Gepflogenheiten gleichzeitig ein Produkt der Geschichte und Matrix für neue Entwicklungen. Sehr selten sind die historischen Momente, in denen meist unter externen Einwirkungen neue Weichenstellungen möglich werden. Eine solche Sternstunde leuchtete am Ende des ersten Weltkrieges im Luxemburger Parlament auf, als die Notabeln unter dem Eindruck des ganz Europa erschütternden revolutionären Wandels das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen (!) zulassen mussten und sich für das Proporzsystem als das demokratischere entschieden.

„Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern“, sagt der mit der nationalen Einheitsbestrebung in Italien konfrontierte Herzog von Palma in Lampedusas Roman Il Gattopardo. In diesem Geist handelten die Luxemburger Notabeln, als sie das Panaschieren (siehe auch den Eintrag im Glossar) einführten, mit dem sie den Wählenden und nicht den Parteien die Auswahl der Abgeordneten übertrugen, und so die alten Gepflogenheiten ins neue System herüberretten konnten. Wichtige Funktionen der Parteien im demokratischen System, wie Rekrutierung und Auswahl des politischen Personals, die Diskussion und Ausformulierung der Programme wurden dadurch eingeschränkt. Die Möglichkeit, eine individuelle Kandidatenauswahl aus allen Listen zusammenzustellen, kann als die große Freiheit des Wählers betrachtet werden. Warum nicht seine Stimmen nur an Frauen, Verteidiger des eigenen Berufstandes oder Vegetarier quer durch das Parteienspektrum geben? Ein Jahrhundert Panaschierpraxis zeigt jedoch, dass nicht die politische Strategie des mündigen Wahlbürgers, sondern andere, weniger hehre Motive die Wahlentscheidungen bestimmen.

Die Notabeln, die vor dem Wahlgang ihre potentiellen Wähler im Gasthaus bewirteten mit – wie im Rénert zu lesen – „Bordeaux a Champagner, an Zigar’n, Ham a Wuuscht“ und ihnen dabei das Blaue vom Himmel versprachen, gibt es in dieser Form nicht mehr. Der für seinen Kneipenwahlkampf berüchtigte Busfahrer Marcel Schlechter, der es bis zum LSAP-Minister gebracht hatte, und der legendäre Gastwirt und ADR-Deputierte Koeppe Jemp gehören dem letzten Jahrhundert an. Heute beschränken sich Wahlgeschenke meist auf Karten, Kugelschreiber und ähnliche Gadgets, während Jungpolitiker mit dem Verteilen von Popcorn und Kondomen auf Luxemburgs Partymeilen auf Stimmenfang gehen.

Jenseits dieser Karikaturen kommt man nicht umhin festzustellen, dass der Preis der Freiheit, seine eigenen Wahllisten individuell zusammenzustellen, also zu panaschieren, hoch ist: Korporatismus, Immobilismus und eine zwar bürgernahe, aber weitgehend überforderte und unterqualifizierte Politikerkaste.

Auswirkungen des Panaschierens

Da Bekanntheit eine Voraussetzung zur Erlangung persönlicher Stimmen ist, fördert das System arrivierte Politiker (Minister, Abgeordnete, Bürgermeister) und darüber hinaus das Entstehen von „Politikerdynastien“, da viele Panaschierer „bekannte Namen“ wählen. Zwei Beispiele: 2004 und 2009 stellte sich auf der ADR Süd-Liste neben Vater Gast Gybérien auch die Tochter Tania dem Wähler. Obschon sie bis dahin nicht politisch in Erscheinung getreten war, landete sie 2004 gleich auf dem dritten Platz, 2009 gar auf dem zweiten. 2013 wurde Ben Fayot auf der Zentrumsliste der LSAP durch seinen Sohn Franz ersetzt, der auf Anhieb gewählt wurde.

Das Panaschieren begünstigt nicht nur altgediente Politiker, sondern Prominente jeglicher Couleur, hauptsächlich Sportler und Journalisten. Die meiste Aufmerksamkeit bekommt diesmal die bei der DP kandidierende Monica Semedo, eines der bekanntesten RTL-TV-Gesichter und vormaliger Kinderstar. Andere RTL-Journalisten wie Dan Hardy, Nico Keiffer und Sandy Lahure kandidieren bei ADR, CSV bzw. LSAP und treten somit in die Fußstapfen ihrer zahlreichen Kollegen, wie Cecile Hemmen und Francine Closener, die 2013 als politische Senkrechtstarter gleich auf Anhieb auf der LSAP-Zentrumsliste den vierten und fünften Platz einnahmen, oder Felix Eischen, der bereits 2009 auf der CSV-Zentrumsliste gewählt und 2013 bestätigt wurde, und Françoise Hetto-Gaasch, die seit 2004 CSV-Zentrumsabgeordnete ist. Marc Hansen hat es 2013 bei seiner ersten Kandidatur zwar nicht ins Parlament, jedoch als Staatssekretär in die Regierung geschafft. Nach 2015 stieg er zum Minister für Wohnungsbau sowie zum Beigeordneten Minister für Hochschulwesen und Forschung auf. Neben ihm ist Francine Closener die zweite frühere RTL-Journalistin in der Regierung. Die Aufzählung der Minister mit RTL-Vergangenheit wäre nicht vollständig ohne Félix Braz, dessen journalistische Arbeit sicher nicht für seine politische Laufbahn entscheidend war, aber vielleicht doch mitgespielt hat.

Auch Funktionäre aus allen möglichen Verbänden, Gewerkschaften und Vereinen sind gerngesehene Stimmenbringer auf allen Listen und werden als Garanten für die Umsetzung der Vereinsziele gewählt. Diese Dimension des Panaschierens muss nicht unbedingt negativ sein, man denke an die so ermöglichte Verzahnung von politischem Leben auf der einen und Gewerkschaften, Umweltvereinigungen und anderen zivilgesellschaftlichen Verbänden auf der anderen Seite. Doch leistet diese Praxis allen möglichen Korporatismen und Partikularismen Vorschub. Die starke Abhängigkeit des Abgeordneten von „seinen“ Wählern öffnet dem NIMBY-Syndrom (not in my backyard) Tür und Tor. Dieser Mechanismus wirkt sich auch auf die Regierungsgeschäfte aus, da in der Regel das persönliche Wahlergebnis ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Verteilung der Ministerposten ist, neben anderen Faktoren wie Bezirks- und Geschlechterproporz … und natürlich Erfahrung und Kompetenz.

It’s the small size, stupid!

Am Ende des 1. Weltkriegs stand die Eigenstaatlichkeit des Großherzogtums auf der Kippe, die Monarchie und die sie unterstützenden Politiker waren weitgehend diskreditiert. Einige Zeitgenossen stellten die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Kleinstaates und sahen in einem Anschluss an Frankreich die Rettung aus dem Sumpf der Kleinstaaterei. „Wir haben den Beweis erbracht, daß wir uns nicht regieren können“, schrieb das Tageblatt (23.11.1918) und sah in den klientelistischen Praktiken des Zensuswahlsystems „unfreiwillige Tragikomik“ und eine „reductio ad absurdum unseres politischen Lebens“.

Als das neue, in seinen Hauptzügen bis heute gültige Wahlgesetz 1919 verabschiedet und mit dem Panaschieren und der Einteilung in vier Wahlbezirke der Geist des alten in das neue System herübergerettet wurde, zählte das Großherzogtum 260.000 Einwohner. Trotz seines Bevölkerungswachstum und der nicht ganz so starken Zunahme seiner Wahlbürgerschaft verbleibt es bis heute mit seinen über 600.000 Einwohnern ein Kleinstaat mit einer sehr knappen Personaldecke in allen Bereichen, insbesondere im politischen Feld.

Bei aller Detailkritik – wie hier am Panaschieren oder etwa an der fehlenden Streitkultur, dem allgemeinen Stammtischniveau der politischen Debatten und dem geringen Input der Intellektuellen – darf nicht vergessen werden, dass all diese Unzulänglichkeiten eine gemeinsame strukturelle Ursache haben: die Kleinheit der Luxemburger Gesellschaft. 

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