Englisch als erste Fremdsprache?

Die paradoxe Stellung einer Weltsprache innerhalb der Luxemburger Mehrsprachigkeit

Im traditionellen Selbstverständnis des Luxemburger Bildungswesens ist Englisch die „erste Fremdsprache“ des Unterrichts und des Landes überhaupt, da Deutsch und Französisch zusammen mit Luxemburgisch als die von allen zu beherrschenden Landessprachen angesehen werden. In einer Bestandsaufnahme des Sprachenunterrichts durch den Europarat aus dem Jahre 2006 liest sich das folgendermaßen: „English […] is officially considered to be the first foreign language outside the trilingual framework.“ „Plurilingualism is perhaps the true mother tongue of Luxembourgers.“1 Woher kommt dieses Selbstverständnis und wieso ist die Stellung des Englischen zum Knackpunkt des Luxemburger Sprachenunterrichts geworden?

Das Märchen von der doppelten Muttersprache

Die Formulierung „der Luxemburger Trilingualismus in seiner Eigenheit sei die eigentliche Muttersprache des Luxemburgers“2 greift zurück auf eine Vorstellung des 19. Jahrhunderts, als die Einsprachigkeit der Menschen selbstverständlich schien und allgemein als Grundlage des Nationalstaates angesehen wurde. Sie war besonders wirkmächtig in Deutschland, wo eine deutschnationale Bewegung ein Reich schaffen wollte: „so weit die deutsche Zunge klingt“.

Luxemburg war bis zur Auflösung des Deutschen Bundes 1866 einer von vielen Bundesstaaten. Da es noch keine eigene Sprache hatte, musste es seine historisch gewachsene Zweisprachigkeit betonen, um sich gegen den großdeutschen Annexionismus zu wehren. Um dem Argument, die französische Sprache sei nur ein Firnis über ihre wahre deutsche Seele, zu begegnen, stellten manche Luxemburger das Postulat von der doppelten Muttersprache auf. Die Zweisprachigkeit wurde als „zwingendes Bedürfnis“ quasi zur zweiten Natur hochstilisiert. Für unseren Kontext ist folgendes Zitat aus dem Jahre 1897 besonders relevant, weil es diese Zweisprachigkeit als Sprungbrett für das Englische hinstellt:

„C’est en effet un besoin généralement senti, un besoin impérieux qui nous pousse à parler et à écrire les deux langues. La réalité plus pratique de la vie se charge de le prouver mieux que toute dissertation savante et théorique. Elle nous dit que, de nos jours plus que jamais, un homme possédant deux langues vaut deux hommes, sans parler de la facilité que la connaissance des idiomes français et allemand procure pour l’étude d’une autre langue, non moins importante aujourd’hui et presque indispensable, la langue anglaise.“3

Die damaligen „Familien der Oberschicht“ (JosianeWeber) waren sich früh der Bedeutung des Englischen bewusst, wie folgende Anekdote zeigt. 1863 schreibt ein Schüler aus dem Jesuitenpensionat in Metz an seinen Vater mit der Bitte, das Fach Deutsch abwählen zu dürfen. Der Vater ist unter zwei Bedingungen einverstanden. Erstens muss er Deutsch in den Sommerferien zu Hause nachholen, zweitens muss er es durch Englisch ersetzen: „la langue anglaise dont la connaissance te sera indispensable plus tard.“ Außerdem ruft er seinem Sohn in Erinnerung, dass er sich im Französischen anstrengen muss: „Il faut connaître à fond la langue de son pays.“4 Hier wird also trotz der von 1848 bis 1948 verfassungsrechtlich garantierten Gleichstellung von Deutsch und Französisch letztere als die Sprache des Landes bezeichnet.

Das Luxemburgische kommt logischerweise nicht vor. Erst langsam wird sich eine die verschiedenen lokalen Mundarten überdachende Verkehrssprache herausbilden. Diese wird zunehmend nicht mehr als Luxemburger Deutsch, sondern als eigenständige Sprache angesehen werden und somit wird nicht mehr die Zwei- sondern die Dreisprachigkeit zum distinktiven Merkmal der Luxemburger. Seit der Schulreform von 1912 vermittelt der Sprachunterricht nicht nur die Beherrschung, sondern auch ein klares Hierarchiegefälle zwischen diesen drei Sprachen. In den 1930er Jahren verblasst allerdings die diskursive Figur der Zwei- bzw. Dreisprachigkeit als Muttersprache. Der sprachlich motivierte Annexionismus wurde nun mit dem Verweis, Luxemburgisch sei eine vom Deutschen durchaus geschiedene Sprache, gekontert. Eine Argumentation, bei der dem Englischen eine zentrale Rolle zukam.

Schon Ende des 18. Jahrhunderts war Autoren wie François-Xavier de Feller eine Ähnlichkeit zwischen Sächsisch und dem Luxemburger Deutsch aufgefallen, mit der sie eine sächsische Abstammung der Luxemburger begründeten. „Unsere Sprache sei von eingewanderten Sachsen, Angelsachsen oder gar von Engländern beeinflusst“, hieß es.5 1888 lieferte Nicolas Palgen eine Studie zum Thema: „Les affinités entre idiome luxembourgeois et la langue anglaise“.6 In der Tat gibt es eine Reihe Luxemburger Wörter, die näher am Englischen als am Hochdeutschen sind: to babble/babblen; to sip/sippen; to suckle/sucklen; the wick/d’Wick, um nur einige zu nennen. Die Erklärung dafür findet sich allerdings in den germanischen Wurzeln des Altenglischen und nicht in vermeintlichen Siedlungsströmen verblichener Zeiten.7

Nachdem es keinen deutschen Sprachimperialismus mehr gibt, sind die hier angeführten Spitzfindigkeiten obsolet. Heute empfinden wohl die meisten Luxemburger Muttersprachler, besonders wenn sie ob ihrer eigenen Familiengeschichte keine besonderen Bindungen zu dieser Sprache haben, Französisch nicht länger als Teil des Luxemburger Kulturerbes, sondern als eine dezidiert fremde Sprache. Dies verhindert aber nicht, dass die Luxemburger Schule noch immer an einer spezifischen nationalen Sprachenkompetenz festhält, die aber zunehmend ins Wanken gerät, wobei das Englische als Katalysator in diesem Prozess wirkt, wie wir sehen werden.

Englisch in der Schule 

Die mit dem Erlernen von zwei Kultursprachen auf gleichem Niveau – so zumindest die implizite Norm des Primärschulgesetztes von 1843 – beschäftigte Luxemburger Schule hatte nur wenig Zeit, sich dem Englischen zu widmen. Das erste Sekundarschulgesetz von 1848 unterschied das auf höhere Studien vorbereitende Gymnasium, damals „école moyenne“ genannt, von der Industrieschule (école industrielle), die den „jeunes gens qui se destinent aux arts, à l’industrie et au commerce“ (loi du 23 juillet 1848) vorbehalten war. Zunächst lernten nur diese Englisch. Das Gymnasium verwendete praktisch die Hälfte der Unterrichtszeit auf Latein und Griechisch. Deutsch und Französisch sowie alle anderen Fächer mussten sich den Rest teilen. Aus politischen Gründen wurde streng darauf geachtet, Deutsch und Französisch paritätisch als Unterrichtssprachen zu benutzten.

Erst bei der Reform von 1908 bekam Englisch einen bescheidenen Platz auf den höheren Klassen des damals den Jungen vorbehaltenen Gymnasiums. Anders bei dem 1911 gegründeten Mädchengymnasium, wo es von der ersten Klasse an unterrichtet wurde. Nach einem dreijährigen Grundzyklus durften die Mädchen auf der Latein-Sektion in die höheren Bildungsweihen eintauchen oder bereiteten sich auf der Sektion „langues modernes“, worunter natürlich vornehmlich Englisch zu verstehen war, auf das Berufsleben vor. Die heutige Regelung geht auf die Gymnasialreform des Jahres 1968 zurück, als u.a. die Unterscheidung von Mädchen- und Jungenausbildung aufgehoben wurde. Seither beginnt das allgemeinbildende Gymnasium in seiner zweiten Klasse, der 6è, mit Englisch. Dasselbe gilt in dem 1979 geschaffenen technischen Gymnasium, wo diese Klasse 8è heißt.

Mit diesem späten Einstieg in den Englischunterricht bildet Luxemburg eine Ausnahme innerhalb der EU, was regelmäßig Rufe nach einer Reform laut werden lässt. Der Versuch der Bildungsministerin Mady Delvaux, mit Englisch bereits im ersten Gymnasialjahr zu beginnen, scheiterte nicht zuletzt an der positiven Bilanz des Englischunterrichtes. Im dem von ihr in Auftrag gegebenen Reformplan wurde dieser als „success story“ geschildert, da trotz der geringen Anzahl an Wochenstunden eine hohe sprachliche Kompetenz erreicht werde. („Les professeurs d’anglais peuvent se féliciter du rendement de leur travail.“). Obschon in diesem Dokument eine stiefmütterliche Behandlung des Englischen eingeräumt wurde („L’anglais reste un peu le parent pauvre face aux langues dites officielles“), hielten die Reformvorschläge sich in engen Grenzen. Beispielsweise wurde vorgeschlagen, die englischen Philosophen in der Abiturklasse im Original zu lesen.8 Übersehen wurde jedoch, dass wegen des späten Anfangs des Englischunterrichts ein nicht unerheblicher Teil der gering Gebildeten kein Englisch lernt, was von diesen als Diskriminierung und von den Arbeitgebervertretern als Standortnachteil empfunden wird.

Trotz des Reformstaus, nicht nur was den Englischunterricht betrifft, ist unter dem liberalen Bildungsminister Claude Meisch das gesamte Schulsystem in Bewegung geraten. Die Schulen bekamen eine größere Autonomie und können zu einem gewissen Grade ihr Curriculum selber bestimmen. Von der sich zunehmend internationalisierenden Schülerpopulation und von den einheimischen Kindern geht eine starke Nachfrage nach einem mit der traditionellen Dreisprachigkeit brechenden Sprachenunterricht aus. So entstanden etliche den Englischunterricht aufwertende Nischenangebote: z.B. die internationale Schule in Differdingen, die u.a. einen Englisch-Zweig hat, sowie ein internationales Abitur mit Englisch als Hauptunterrichtssprache am Athenäum. Die einschneidenste Neuerung stellt jedoch die Schaffung einer englischsprachigen sowohl Grundschul- als auch Gymnasialklassen umfassenden International School Michel Lucius innerhalb des gleichnamigen Lycée Technique dar. Diese Änderungen und weitere, wie das Schengen-Gymnasium, der deutschsprachige Matheunterricht – sowie die finanzielle Unterstützung der internationalen Schulen durch das Ministerium – mittlerweile sind ca. 15% der Schülerpopulation außerhalb des nationalen Bildungssystems eingeschult – verfolgt die Lehrergewerkschaft SEW mit großer Skepsis. Sie sieht darin ein Indiz für die Dekonstruktion der öffentlichen Schule und die Kapitulation der Bildungspolitik vor der Wirtschaft.9 Somit findet sie sich in einer seltsam anmutenden Übereinstimmung mit der ADR, deren Abgeordnete als einzige mit ähnlichen Argumenten gegen die International School Michel Lucius votierten.10

*

Vor einem Jahr hatte ich in einem forum-Artikel die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung des Englischen und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust des Französischen innerhalb der EU und in Luxemburg beschrieben und darin eine Chance für die Aushandlung eines neuen Gleichgewichtes zwischen den drei Landessprachen gesehen.11 Der dort beschriebene Trend hat sich fortgesetzt und ein Ende des Prozesses ist nicht abzusehen.

 

1 Council of Europe, Language Education Policy Profile, Grand Duchy of Luxembourg: http://www.coe.int/t/dg4/linguistic/ Source/Profil_Luxembourg_EN.doc, 2006 (Stand 01.06.2017), S. 16 und S. 50.

2 Germaine Goetzinger, „Eine Sprache geht ihren Weg: Von „onst Däitsch“ zu „eis Sprooch“, in: Lëtzebuergesch: „eng Ried, déi vun allen am meeschten ëm ons kléngt“, Ausstellungskatalog, Mersch: Centre national de littérature, 2000, S. 7–19. Hier S. 19.

3 Alfred Houdremont, Histoire de la langue française comme langue administrative du pays de Luxembourg, Luxembourg, Pro- gramme de l’École industrielle et commerciale de Luxembourg, Luxemburg, 1897.

4 Josiane Weber, Familien der Oberschicht in Luxemburg: Eliten und Lebenswelten 1850-1900, Luxemburg, Binsfeld, 2013, S. 118.

5 Joseph Hess, Die Sprache der Luxemburger, Luxemburg, Paul Brück, 1946, S. 102.

6 Zitiert nach Nico Weber, Lëtzebuergesch und Englisch, Centre Universitaire – Germanistik (XVII) 2002, S. 1-38.

7 Christophory, Jul, Luxembourgeois, qui êtes-vous? Luxembourg, Binsfeld, 1984, S. 349-354.

8 Charles Berg und Christiane WEIS, Réajustement de l’enseigne- ment des langues. Plan d’action 2007 2009, Luxembourg, CESIJE, 2007. S. 54.

9 Monique Adam, „La déconstruction de l’école publique“, in: Tagblatt 28.06.2017 und 29.06.2017.

10 Parlamentsdebatte des Gesetzesprojekt 7073, 13. Dezember 2016.

11 Fernand Fehlen, „Englisch in Luxemburg. Eine Herausforderung für die traditionelle Dreisprachigkeit“, in: forum (362) 2016. https:// www.forum.lu/wp-content/uploads/2016/05/362_Fehlen.pdf

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code