Wählerwanderung

Faktuell 49

Aus deutschen Medien sind wir es gewohnt, dass kurz nach der Wahl sogenannte Wählerwanderungen veröffentlicht und ausgiebig kommentiert werden. Früher hat sich die ILRES auch schon daran versucht, aber sie dann wegen mangelndem Interesse der Öffentlichkeit eingestellt. Zur diesjährigen Parlamentswahl hat der frühere Research und Managing Director von der ILRES Luc Biever eine solche Analyse auf X, vormals Twitter, veröffentlicht und sie forum zur Kommentierung zur Verfügung gestellt. 

Die Methode basiert darauf, die Wählerströme zwischen den Parteien allein aufgrund eines Vergleichs der aktuellen und der vergangenen Wahlergebnisse mit Hilfe eines mathematischen Modells zu errechnen. Die Daten stammen also nicht aus einer Umfrage, bei der einzelne Wählende nach ihrer aktuellen und ihrer vergangenen Wahlentscheidung gefragt werden. Solche Umfragen – die idealerweise gleich nach dem Verlassen des Wahllokals gemacht und deshalb Exit Polls genannt werden – wurden in Luxemburg bislang nicht veröffentlicht. Die Wählerwanderungen, die man hierzulande und auch schon in forum1 sehen konnte, basierten auf Umfragen, die in den Wochen nach der Wahl durchgeführt wurden. 

Bei der heute vorgestellten Wähler­wanderung­ wird die Wählerschaft einer Partei als homogener Block angesehen (deshalb auch Aggregatmethode genannt). „Wenn Partei A dort zulegt, wo bei der vorigen Wahl Partei B stark war, dann wird das als Stimmenwanderung von B zu A interpretiert“.2 Diese Überlegung setzt u. a. voraus, dass sich im untersuchten Gebiet, hier die Gemeinden, die Bevölkerungsstruktur nicht verändert hat. 

Das Panaschieren stellt eine zusätzliche Schwierigkeit dar. Im Vergleich zur letzten Wahl ist die Zahl der Listenstimmen von 62% auf 64% gestiegen (Grafik 1). Das vorliegende Modell mischt Listenstimmen und personalisierte Stimmen und nennt das Ergebnis dann richtigerweise nicht Wähler- sondern Stimmen­wanderung. Vielleicht wäre es auch sinnvoll die Untersuchung der Listenstimmen und der personalisierten Stimmen separat durchzuführen? Luc Biever hat sechs Modellierungen in Form von interaktiven Grafiken vorgelegt.3 Die vier Stimmenwanderungen in den Wahlbezirken zeigen, dass es sehr wohl unterschiedliche, vermutlich durch das Panaschieren über Parteigrenzen hinweg bedingte regionale Logiken gibt. Diese Erkenntnis werden die Gegner eines Einheitsbezirks dankend als Argument gegen eine Wahlrechtsreform aufgreifen. Für das ganze Land legt er zwei Modelle vor: Erstens eine Stimmenwanderung im strengen Sinne des Wortes, in der die Stimmenwanderungen der einzelnen Bezirke einfach zusammengezählt werden. Dies berücksichtigt jedoch nicht, dass die Wähler z. B. im Süden dreiundzwanzig und im Osten nur sieben Stimmen haben. Das zweite nationale Modell ist sinnvoller, da es die unterschiedliche Stimmenzahl in den Bezirken berücksichtigt und zunächst „theoretische“ bzw. „fiktive Wähler“ rechnet und dann diese zusammenrechnet.4

Listenstimmen und persönliche Stimmen

Déi Gréng sind der große Verlierer der Wahl: Sie haben nach dem National­modell (Grafik 2) nur die Hälfte der Stimmen, die sie bei der Wahl davor hatten, an sich binden können. Ungefähr ein Drittel geht an die DP verloren, weniger gehen an die CSV, Déi Lénk und die LSAP (in dieser Reihenfolge). Nur im Norden ist ein nennenswerter Verlust der grünen Stimmen Richtung CSV auszumachen. Praktisch keine Stimmen gehen an die Piraten und die ADR. Je kleiner die Parteien, desto mehr Vorsicht ist bei der Interpretation geboten. Deshalb wurden Fokus, Liberté und die weiteren kleinen Listen als Rest­kategorie gebündelt. Ungefähr ein Zehntel der Grünenstimmen gehen an diese anderen. Dieser Stimmenstrom ist besonders stark im Süden und Osten mit jeweils einem Verlust von über 10% der Stimmen von 2018. Dass dieser Strom im Norden praktisch inexistent ist, gemahnt uns noch einmal zur Vorsicht. 

National: Wanderungen von „theoretischen“ Wählern

Was versteckt sich hinter der Kategorie Nei Stëmmen? 2023 waren 10,3% mehr Wahlbürgerinnen und Wahlbürger eingeschrieben als 2018. Zur Urne sind 7,3% mehr geschritten und die Zahl der abgegebenen Stimmen hat sich um 6,6% erhöht. Unter der Annahme, dass der natürliche demografische Wandel, also die Jungwähler, die die Seniorenwähler ersetzen, über das ganze Land ähnlich verteilt ist, beschreiben die neuen Stimmen das Verhalten der Neueingebürgerten. Sie gehen an die LSAP und die CSV – jeweils mit einem knappen Viertel – gefolgt von den drei fast gleichen Wählerstimmenströmen von ca. 15% zu ADR, DP und Piraten. Es fällt auf, dass die Grünen nur sehr wenige Stimmen und Déi Lénk keine erhalten.  

Im nationalen Stimmenstrommodell gehen 3% der LSAP-Stimmen an die beiden anderen großen Parteien. In den Modellen für Zentrum und Süden sind es jeweils null Stimmen, die an die großen Konkurrenten gehen. Nur in den beiden anderen Bezirken Norden und Osten gibt es kleinere Ströme in diese Richtung, wobei fast fünfmal mehr an die DP als an die CSV gehen. Ein klarer Paulette-Effekt und die Hoffnung auf eine LSAP, die auch als Juniorpartner die erste Regierungs­chefin stellen könnte. 

Luc Biever hat nicht den Anspruch eine wissenschaftliche Analyse vorzulegen, sondern ist von seiner Begeisterung für die computergestützte Datenanalyse angetrieben. Er hat es geschafft, zu beweisen, dass eine Wählerwanderungsanalyse mit der Aggregatmethode möglich ist und dass ein reges Interesse, nicht nur auf Twitter, dafür besteht. Das forum-Team hat sie im Sinne eines Rorschach-Tintenkleckstest als Anregung für sein Wahlanalysen-Brainstorming genutzt. Es ist zu hoffen, dass für die nächste Wahl die Unipolitologen sich gemeinsam mit der ILRES an eine Studie nach der sog. Hybridmethode, dem Goldstandard der Wahlforschung, wagen: einer auf handverlesenen Wahl­bürobasis basierenden Aggregatanalyse, die mit einem Exit Poll kombiniert wird.5 

1 Nach den Wahlen von 1999 und 2018: https://www.forum.lu/wp-content/uploads/2015/11/4504_203_Fehlen.pdf,  https://www.forum.lu/wp-content/uploads/2019/06/396_Fehlen.pdf. (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 19. Oktober 2023 aufgerufen).

2 Eine allgemein verständliche Einführung findet sich hier: https://www.derstandard.at/story/2000035850803/wie-waehlerstromanalysen-funktionieren?

3 https://public.flourish.studio/story/2060269

4 Zur Methodologie: https://elections.public.lu/fr/support/faq/faq-statec.html

5 https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-15674-9

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